Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
Vom Netzwerk:
Auge. Eine Gestalt stand in der Aufzugkabine, die sich vor dem Neonlicht als Silhouette abzeichnete. Der sterile Schein ließ Grace blinzeln. Die Geräusche der Notaufnahme traten in den Hintergrund, doch ihr Pulsschlag dröhnte ihr in den Ohren, zusammen mit dem Trommeln Hunderter anderer Herzschläge; es war, als hätte sich die Luft in ein Stethoskop verwandelt, das das Leben und die plötzliche Furcht aller Anwesenden übertrug. Die Gestalt trat aus dem Aufzug.
    Er war es. Der Mann, den sie vor drei Stunden für tot erklärt hatte. Er war nackt, seine Haut hatte die Farbe bleicher Pilze. Zwischen den Stichen, die die Wunde in seiner Brust verschlossen, quoll schwarzes Blut hervor. Seine Augen starrten bohrend und tot geradeaus. Dann setzte sich der Mann mit dem Eisenherzen mit hirnloser Bedächtigkeit in Bewegung; seine nackten Füße machten auf dem Fliesenboden klatschende Geräusche.
    Die Stille in der Notaufnahme zerbrach. Schreie aus allen Richtungen durchschnitten die Luft, als die Menschen bei dem Versuch, dem Toten aus dem Weg zu gehen, auseinanderspritzten. Ein Rettungssanitäter war zu langsam. Der Tote stieß mit der Hand zu, und der Sanitäter wurde zur Seite geschleudert. Er rutschte etwa sechs Meter über den Boden, bevor er in eine Stuhlreihe krachte. Er zuckte, richtete sich aber nicht wieder auf. Morty Underwood stand nur ein paar Schritte von der verkrümmt daliegenden Gestalt des Sanitäters entfernt, aber der leitende Assistenzarzt hatte für den Gestürzten keinen Blick übrig. Sein blasses Gesicht war von Angst verzerrt. Er warf eine Handvoll Papiere in die Luft, die in einem vielfarbigen Schauer zu Boden regneten, und drehte sich um, um aus dem Empfangsbereich zu flüchten. Der Tote ging weiter, auf den Haupteingang der Notaufnahme zu. Grace drückte sich gegen die Wand. Sie wußte, daß sie die Flucht ergreifen mußte, aber es war ein antriebsloses Wissen, das nicht bis in die Nerven und Muskeln ihrer Glieder durchdrang. Die Kaffeetasse entglitt gefühllosen Fingern und zerbarst mit dem Geräusch zersplitternder Knochen auf dem Boden.
    Ein dunkelblauer Schemen glitt an ihr vorbei. Erwin. Der Polizist näherte sich dem Toten, die eine Hand gerade ausgestreckt, während die andere nach der Waffe an seiner Hüfte griff.
    »Bleiben Sie sofort stehen …«, waren Erwins erste Worte.
    Weiter kam er nicht. Die Leiche ließ eine Hand vorschnellen, berührte Erwins Stirn und stieß den Officer mit brutaler Gewalt zurück. Erwins Schädel schlug eine Armlänge von Grace entfernt gegen die Wand. Ein scharfes Geräusch wie ein explodierender Feuerwerkskörper ertönte. Dann glitt Erwin zu Boden, als hätten sich seine Knochen in Gelee verwandelt. Sein Kopf hinterließ eine schmierige Spur auf der grünen Farbe.
    Der wandelnde Tote blieb nicht stehen. Er starrte mit furchteinflößender Ruhe geradeaus und ging keine fünf Schritte von Grace entfernt weiter auf die Automatiktüren zu. Ein lähmender Geruch ging von dem Körper aus: der faule Gestank geronnenen Blutes und der süße, verpestete Duft von Verfall.
    Es war der Geruch des Todes.
    Der Empfangsbereich war mittlerweile buchstäblich menschenleer. Die meisten waren geflohen, nur ein paar Leute sahen mit schreckerfüllter Faszination aus den Korridoren zu. Der Sanitäter war weggekrochen. Nur Grace und der am Boden liegende Polizist bewegten sich nicht. Dann gesellte sich in der stillstehenden Luft ein weiterer Laut zu dem feuchten Aufklatschen der toten Füße, ein metallisches Knirschen, begleitet von einem furchterfüllten Murmeln. Grace ließ die Blicke durch den Raum schweifen auf der Suche nach der Quelle der Geräusche.
    Genau vor den Automatiktüren der Notaufnahme kämpfte eine weißhaarige Frau in einem weißen Bademantel mit ihrem Rollstuhl. Eines der Räder klemmte und wollte sich nicht drehen. Mit arthritischen Fingern fummelte sie an der Bremse herum und versuchte es erneut. Der Rollstuhl drehte sich langsam im Kreis, bewegte sich aber nicht vorwärts. Verwirrt durch seine Nähe glitt die Automatiktür unablässig auf und zu, als würde sie von einem lautlosen, spastischen Gelächter geschüttelt. Der Frau blickte auf, Furcht trat in ihre müden alten Augen. Ihr Rollstuhl befand sich genau zwischen dem Toten und der Tür.
    Er würde sie töten. Der Tote würde nicht zur Seite gehen, er würde auch nicht um sie herum gehen. Statt dessen würde er alles zerstören, was ihm im Weg stand. So lag es in der Natur seiner … Schöpfung.

Weitere Kostenlose Bücher