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Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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fehlt mir die Kraft, alle von euch Ungläubigen zu überzeugen«, fuhr der Prediger fort. »Doch ihr habt Glück, denn heute abend ist noch jemand unter uns, der diese Finsternis klarer erkennt als jeder andere. Und an ihrer Seite ist jemand, der ihre Natur viel besser versteht, als ich es tue.« Bruder Cy zeigte dramatisch auf einen mottenzerfressenen Samtvorhang an der Seite und verbeugte sich wie das makabre Faksimile eines Gameshow-Moderators. »Darf ich euch Schwester Mirrim und das Kind Samanda vorstellen!«
    Der Vorhang teilte sich, und eine Frau und ein kleines Mädchen betraten die Bühne. Sie gingen Hand in Hand auf Bruder Cy zu, und Travis gewann den Eindruck, daß nicht die Frau das Mädchen führte, sondern es sich eher umgekehrt verhielt. Beide trugen schwere Kleider aus schwarzer Wolle, die einen scharfen Kontrast zu ihrer mondbleichen Haut darstellten. Allerdings endete da die Ähnlichkeit auch schon, denn das Haar der Frau war wild und ungebändigt, und der Blick ihrer grünen Augen – die in dem ansonsten völlig unbewegten Gesicht als das einzig Lebendige, Besorgte erschienen – schien entrückt auf einem weit entfernten Ort zu ruhen, während das Haar des Mädchens pechschwarz und seine violetten Augen viel zu wissend für das engelsgleiche Antlitz waren.
    Bruder Cy stellte sich hinter die Frau und das Mädchen und umfaßte sie mit seinen ausgestreckten Armen, ohne sie jedoch dabei zu berühren. »Schwester Mirrim gebietet über eine großartige und ungewöhnliche Sicht«, sagte er mit einem Bühnenflüstern. »Soll sie für uns jetzt sehen?« Seine Hand fuhr hoch und gebot Schweigen. »Wartet! Bevor ihr antwortet, müßt ihr wissen, daß das, was Schwester Mirrim sieht, sowohl etwas Gutes wie auch etwas Schlechtes sein kann. In diesen Zeiten, das sage ich euch voraus, ist es viel wahrscheinlicher, daß sie etwas Schlechtes erblickt. Aber diejenigen, die es wagen, zuzuhören, können mit dem Wissen über das Böse viel Gutes tun. Ist einer von euch bereit, das Wagnis einzugehen?«
    Von den Bänken ertönte ein Chor der Zustimmung.
    »So sei es.« Bruder Cy beugte sich nahe an Schwester Mirrim heran. »Sieh für uns, Schwester«, murmelte er und zog sich wieder zurück. Schwester Mirrim begab sich an den Rand der Bühne, ihre Hände ruhten wie zwei zerbrechliche Tauben auf den schmalen Schultern des Kindes Samanda, das stumm vor ihr stand. Schließlich ergriff Schwester Mirrim das Wort, und als sie das tat, wurde ihr Blick noch entrückter; er schaute Dinge, die kein anderer in dem Zelt sehen konnte.
    »Sie kommt von einem weit entfernten Ort«, begann sie in einem singsangähnlichen Tonfall. »Doch in der Ferne liegt kein Schutz. Denn ich kann sie wachsen sehen; ich sehe, wie sie finstere Sprossen bildet und finstere Wurzeln tief in die Erde schickt, wie sie eine Welt aussaugt, um zu erstarken. Und wenn sie diese Welt ausgesaugt hat und nur noch Asche und Knochen vorhanden sind, wird sie ihren Blick in diese Richtung wenden, und sie wird ihren Durst mit dieser unachtsamen Welt stillen.« Ihre Stimme wurde immer schriller. »Könnt ihr sie denn nicht sehen? Die Vögel der Nacht sind aufgestiegen. Ihr fahler Herr erwacht, und sein Herz ist kälter als der Winter. Wo sind der Steinbrecher und die Klingenheilerin? Ich sehe sie noch nicht. Aber da ist noch etwas, etwas noch Finstereres, ein Schatten hinter dem Schatten.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht … Ich kann es nicht richtig …« Ihre Stimme war panikerfüllt, und der betroffene Ausdruck in ihren Augen verwandelte sich in blankes Entsetzen. »Ach! Ach! Das Auge, das geblendet war, kann wieder sehen, und unter seinem feurigen Blick verdorrt alles und wird schwarz!«
    Schwester Mirrim schwankte und wäre gestürzt, hätte das Kind Samanda nicht ihren Arm ergriffen. Bruder Cy war mit zwei großen Schritten an ihrer Seite, nahm die Schultern der flammenhaarigen Frau und stützte sie ebenfalls.
    Eine gebrochene Stimme erhob sich aus dem Publikum.
    »Ich habe sie auch gesehen.«
    Es war der Blinde. Er hielt seine faltigen Augenhöhlen der Bühne entgegen.
    Obwohl Bruder Cys Stimme leise war, durchdrang sie die Stille des Zeltes. »Was hast du gesehen?«
    »Die dunklen Vögel.« Der Alte umklammerte seinen Stock. »Ich habe nichts mehr gesehen, seit ich ein Junge war, aber in der letzten Zeit sehe ich sie; sie fliegen vor meinen Augen umher, wie dunkle Schemen, die noch schwärzer als die Finsternis sind, die ich sonst sehe.

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