Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Und …« – seine Stimme wurde zu einem Flüstern – »und ich habe auch ihn gesehen.«
Bruder Cy betrachtete ihn interessiert, und der Alte bewegte sich unbehaglich, als könnte er die Macht spüren, die im Blick des Predigers lag.
»Wen hast du gesehen?« fragte Bruder Cy.
»Ihn«, sagte der Blinde, und die Knöchel der Hand, die den Stock hielt, verfärbten sich weiß. »Den Fahlen. Ich sah ihn einmal, die Nachtvögel schwirrten um ihn herum, und er war so weiß wie Schnee – zumindest nehme ich das an, ich habe fast ein ganzes Leben lang keinen Schnee mehr gesehen –, und er hob sich hell strahlend von der Finsternis ab, groß und voller Grimm, und es kam mir so vor, als trüge er eine Krone aus Eis. Und er lachte. Er lachte mich aus.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Er war etwas Schreckliches, jawohl.«
Die Worte des Alten waren kaum verklungen, als die Frau mittleren Alters in dem Kostüm auch schon aufstand. »Ist es zu spät?« Sie rang die Hände. »Ist es für uns schon zu spät, etwas gegen die Finsternis zu tun?«
»Nein«, sagte Bruder Cy. »Es ist nie zu spät, nicht bis zum Ende. Und selbst dann, wer kann schon sagen, ob wirklich alles vorbei ist? Die Finsternis kommt näher, aber noch ist sie nicht ganz hier, und wenn wir alle unseren Teil dazu beitragen, wird sie es vielleicht niemals schaffen.«
»Aber was ist sie?« rief jemand frustriert. »Was verbirgt sich hinter dieser Finsternis, von der jeder behauptet, daß sie kommt?«
Travis war entsetzt, als er sich bewußt wurde, daß das seine Worte waren. Er war aufgestanden. Irgendwie war ihm die ganze Hysterie über das drohende Ende und die Finsternis unter die Haut gegangen.
»Auf diese Frage habe ich gewartet.«
Aber nicht Bruder Cy hatte da gesprochen, sondern das Mädchen. Seine Stimme war leise, und es lispelte etwas, und doch lag Kraft in ihr. Das Mädchen trat vor, und die schwarzgeknöpften Schuhe klapperten wie winzige Hirschhufe über die Holzbühne. Obwohl es die ganze Versammlung ansprach, war Travis davon überzeugt, daß ihr viel zu wissender Blick allein für ihn bestimmt war.
»Die Finsternis ist zugleich singular und vielfältig«, sagte das Mädchen, und Köpfe nickten, so als würden die Zuhörer ihre rätselhaften Worte genau verstehen. »Singular in dem Sinne, daß sie einer tiefen Quelle entspringt. Vielfältig, da sich ein jeder von uns ihr auf seine Weise stellen muß.« Seine kleine Hand zeigte auf das Publikum. »Jeder von euch muß eine Schlacht schlagen. Aus diesem Grund seid ihr alle heute abend gekommen – obwohl es noch viele mehr von eurer Sorte gibt. Die meisten eurer Schlachten werden nur klein sein, was aber nicht bedeutet, daß sie nicht wichtig sind. Denn auf diese Weise wird dieser Krieg gewonnen oder verloren werden, durch tausend kleine Schlachten, von denen jede von einer Person ausgefochten wird, die sich der Finsternis allein entgegenstellen muß – oder sich ihr ergibt.«
»Aber wie werden wir unsere Schlacht erkennen, wenn es soweit ist?« fragte der Fernfahrer.
Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Samandas rosige Lippen. »Du wirst es wissen«, erwiderte sie und schwieg dann.
Und damit war die Erlösungsversammlung beendet.
»Ich danke euch allen für euer Kommen«, sagte Bruder Cy und schwenkte verabschiedend die Arme. »Vergeßt nicht, was Schwester Mirrim gesehen hat, oder die Worte des Kindes Samanda. Und vergeßt auch nicht, beim Hinausgehen an eine kleine Spende zu denken, ein Almosen, das es uns erlaubt, unsere Botschaft an andere wie euch weiterzugeben.«
Bruder Cy sprang von der Bühne und stellte sich neben den Ausgang. Scheinbar aus dem Nichts erschien sein breitkrempiger Pastorenhut in seiner knochigen Hand, und er streckte ihn aus. Ein paar Leute warfen eine Handvoll Kleingeld oder eine zerknüllte Banknote hinein, während sie vorbeischlurften. Oben auf der Bühne führte das Kind Samanda Schwester Mirrim auf den Vorhang zu. Als sie durch den Schlitz in dem schäbigen Samt traten, konnte Travis einen flüchtigen Blick auf den dahinterliegenden halbdunklen Ort erhaschen. Er blinzelte, denn er glaubte hinter dem Vorhang einige Gestalten zu sehen, die in einem seltsamen Knoten aus krummen Beinen, biegsamen Armen und gebogenen Schwanenhälsen ineinander verschlungen waren. Einer von ihnen, ein junger Mann – oder war er doch alt? – erwiderte Travis' Blick mit haselnußbraunen Augen. Etwas sproß aus seiner Stirn, etwas, das beinahe so aussah wie …
Weitere Kostenlose Bücher