Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor

Titel: Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
Vom Netzwerk:
Fähigkeit des Verstehens durchzudringen. Die Bäume waren zurückgeblieben, und auf einem fernen Hügel hatte sie Türme und hohe Mauern erblickt, die umherwirbelnde dicke Flocken in Stille hüllten; es war genau wie die Szene in einer Schneekugel. Ja, es mußte mit fast völliger Sicherheit eine …
    Ihr war zu kalt, um das Wort wieder zu erfassen. Bedrohlich kalt. Sie kauerte sich in der Wolldecke zusammen, in die der Ritter sie eingewickelt hatte und die nach Schweiß und Pferden roch. Ihre halbgefrorene Bluse und ihre Hosen klebten an ihrer Haut, doch sie zitterte nicht. Hätte sie nicht zittern müssen?
    Du leidest an Hypothermie, Grace, sagte eine nüchterne Stimme in der Tiefe ihres aufgedunsenen Bewußtseins. Selbst in diesem Augenblick, während der Rest von ihr starr vor Kälte war, schätzte die Ärztin in ihr die Situation ein und stellte eine genaue Diagnose. Dein Herzschlag ist verlangsamt, dein Blutdruck gefährlich niedrig, und du befindest dich offensichtlich in einem veränderten Bewußtseinszustand. Du kennst die Symptome, das sind die ersten Anzeichen eines Patienten, der in einen Schockzustand verfällt. Du mußt ins Warme kommen, Grace. Sonst wirst du sterben.
    Jede Bewegung fiel unendlich schwer; ihre Muskeln waren wie Blei. Doch irgendwie – ganz langsam – legte sie die Arme fester um die Brust des Ritters und drückte ihren Körper gegen den sich in Bewegung befindlichen Pferderücken unter ihr. Diese Handlung erschöpfte ihre letzten Kraftreserven. Lähmung ließ ihre Glieder versteifen; die Landschaft um sie herum verblaßte. Von allen Seiten drang Dunkelheit auf sie ein. Diese Dunkelheit war weder kalt noch warm, in ihren sanften Falten lag auch keine Furcht. Hier gab es nur eine süße und endlose Leere. Obwohl eine leise, beharrliche Stimme Grace etwas zuzuflüstern schien – du darfst nicht schlafen, nicht jetzt –, konnte sie die Worte nicht genau verstehen. Sie glitt tiefer in die sanfte, erstickende Dunkelheit hinein.
    Vor dem schwarzen Hintergrund ihres Bewußtseins blitzte ein winziger, aber greller Funken auf. Er zerplatzte und verschwand. Grace ignorierte ihn und fuhr fort, in den Abgrund hinunterzusteigen. Nur noch ein kleines Stückchen, und sie würde nie wieder frieren.
    Ein weiterer heller Punkt blitzte in der Dunkelheit auf, und noch einer. Dann waren es Tausende; klein und scharf hatten sie die Hitze von Sternen. Irgendwann begriff Grace, was diese Funken darstellten. Schmerz. Zahllose Nadelstiche bewegten sich ihre Haut entlang. Die Funken zerrissen die Dunkelheit, die sie einhüllte. Plötzlich verspürte sie tief in ihrem Inneren einen Stich, dem im nächsten Augenblick eine deutlich spürbare Zuckung folgte. Und dann ließ ein gewalttätiges Zittern ihren Körper erbeben.
    Sie öffnete den Mund, tat einen stockenden Atemzug und begriff erst jetzt, daß sie offensichtlich zu atmen aufgehört hatte. Ein Feuerwerk aus Schmerz raste ihre Glieder entlang, während Wärme von dem Ritter und dem Pferd in sie hineinsickerte. Wieder durchfuhr sie ein Zittern, und dann noch eins. Danach konnte sie nicht mehr aufhören zu zittern.
    Das ist ein gutes Zeichen, Grace, sagte die Arztstimme emotionslos. Das Zusammenziehen deiner Muskeln wird chemische Wärme erzeugen und in deinen Extremitäten wieder den Blutkreislauf in Gang bringen. Der Schmerz ist ein Zeichen dafür, daß du keine Erfrierungen hast. Du wirst es überleben.
    Zitterwärme sickerte langsam durch Graces Körper, während das Pferd durch den Wintertag galoppierte. Ihre Benommenheit begann zu schmelzen, und sie wurde sich ihrer Umwelt bewußter. Zum ersten Mal nahm sie den Ritter vor sich nicht nur als verschwommenen Schatten wahr. Sie spürte, daß er im Stehen kein großer Mann sein würde, aber er war kräftig und kompakt gebaut. Er hielt die Zügel mit Händen, die in Handschuhen aus Kettengeflecht steckten, und er trug eine Art langes, rauchgraues, an den Seiten geschlitztes Hemd, unter dem Grace zahllose kleine harte, miteinander verbundene Eisenringe ertastete. Ein schwarzer Umhang hing von den Schultern, und auf dem Kopf trug er einen abgeflachten Helm aus gehämmertem Stahl.
    Der Mann sah zur Seite, und Grace erhaschte einen Blick auf sein Profil. An einigen Stellen dellten Pockennarben die Haut ein, die Hinterlassenschaft einer Kinderkrankheit. An dem herabhängenden schwarzen Schnurrbart klebte Eis, sein Atem trat als Nebel in die Luft. Unter den braunen Augen gab es eine Habichtsnase, der

Weitere Kostenlose Bücher