Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
interessiert, Mylady, es ist mir völlig egal, aus welchem Land Ihr kommt. Tatsächlich dient es meinen Zwecken weitaus besser, wenn niemand – ich eingeschlossen – die Wahrheit über Eure Herkunft oder Euren Stand kennt, oder warum Ihr Euch entschlossen habt, unerkannt zu reisen. Eure Haltung zeichnet Euch als Frau von edler Geburt aus, und eine geheimnisvolle ausländische Lady, deren Absichten und Macht unbekannt sind, ist genau das, was ich brauche.«
Er kam mit grimmiger Miene auf Grace zu. »Das sind dunkle Zeiten in den Domänen, Mylady. Es ist unumgänglich, daß der Rat schnell handelt, statt sich mit kleinen Streitereien und sinnlosen Debatten aufzuhalten. Ich muß die Absichten der anderen Herrscher erahnen, um ihre Meinungen zu formen und den Rat davon zu überzeugen, daß er handeln muß. Und Ihr werdet mir dabei helfen, genau das zu tun.«
Graces Besorgnis wich Verwirrung. »Aber ich verstehe nicht. Wie könnte eine Fremde Euch denn helfen? Ich bin davon überzeugt, daß keiner auch nur ein Wort mit mir sprechen wird.«
Boreas grunzte. »Ihr versteht wirklich nichts von der Hofpolitik, nicht wahr, Mylady? In Eurem Beckett müssen die Dinge ganz anders laufen.«
»Sogar sehr anders.« Grace wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie begnügte sich mit einer Art ironischer Grimasse.
»Dann müßt Ihr mir einfach glauben«, sagte Boreas. »Die Aufgabe, die ich Euch stelle, ist in Wirklichkeit ganz leicht. Ich habe den Rat einberufen, am ersten Tag des Valdeth zusammenzutreten. Bald werden Adlige von den Höfen der anderen Domänen eintreffen, um vorher alles für ihre Könige und Königinnen vorzubereiten. Durge von Embarr habt Ihr bereits kennengelernt. Ihr sollt bloß die Augen offenhalten, mit den anderen Adligen sprechen, wenn sich die Gelegenheit bietet, und mir alles Interessante berichten, was Ihr in Erfahrung gebracht habt.« Es war sein Ernst. »Werdet Ihr Euch herablassen, diesen Auftrag anzunehmen, Mylady?«
Grace entschied sich, der Vernunft eine weitere Chance zu geben, sich doch noch durchzusetzen. »Verzeiht mir, Euer Majestät, aber ich glaube nicht, daß ich Euch nutzen kann.«
Boreas blickte sie finster an. »Das habe ich nicht wissen wollen.« Er trat näher an sie heran, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander trennten. Sie konnte beinahe die Intensität sehen, die wie verzerrte Hitzewellen von ihm ausging. »Ich frage Euch das nur noch einmal.« Seine Stimme senkte sich zu einem Schnurren. »Werdet Ihr diesem König helfen, Grace von Beckett?«
Sie verstand nichts von Politik, und sie war kaum die richtige Kandidatin für eine Aufgabe, bei der sie sich unter Adlige mischen mußte. Doch es schien sich nicht für ihre Stellung zu ziemen, weiterhin dagegen zu protestieren. Schließlich handelte es sich hier um keinen Geringeren als den König. Ungläubig ertappte sich Grace dabei, daß sie murmelte: »Natürlich, Euer Majestät. Es wäre mir eine Ehre, Euch zu helfen.«
Boreas nickte. »Eure Antwort freut mich, Mylady. Seht Ihr, ich bin zu dem Schluß gekommen, daß Ihr mir sympathisch seid, und es hätte mich sehr unglücklich gemacht, Euch ins Verlies werfen zu müssen. Zu dieser Jahreszeit werden die Ratten langsam hungrig, wo doch der Winter kommt.«
Grace drohten die Augen aus dem Kopf zu quellen.
Der Schatten verschwand von König Boreas' Gesicht, Heiterkeit funkelte in seinen Augen. Er grinste wieder, aber diesmal war der Ausdruck kaum furchteinflößend. Er hatte einen Witz gemacht. Aryn hatte sie ja vorher gewarnt. Der König glaubte wirklich, witziger zu sein, als er in Wirklichkeit war.
»Da habe ich Euch erwischt, was?« sagte er triumphierend.
Grace atmete erleichtert auf. »O ja. Das habt Ihr allerdings.«
Dieser Sieg ließ den König in die Hände klatschen. »Und jetzt wollen wir sehen, wo Lady Aryn steckt. Ich habe auch für sie eine Aufgabe.«
»Möchtet Ihr, daß ich nach der Baronesse Ausschau halte, Euer Majestät?« Grace versuchte, nicht zu beflissen zu klingen, sich aus der Gegenwart des Königs zurückziehen zu können.
Boreas lächelte verschmitzt, und seine Stimme verwandelte sich in ein Flüstern. »Nein, Mylady, ich glaube nicht, daß das nötig sein dürfte.« Er schlich zur Tür, und seine Stiefel machten auf den dicken Teppichen nicht den geringsten Laut. »Ich glaube, ich weiß ganz genau, wo ich mein Mündel finde.«
Der König blieb neben der Tür stehen und riß sie mit einer schnellen Bewegung auf. Mit einem
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