Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
König schnaubte, als er seine Gedanken sammelte.
Grace sah in stiller Ehrfurcht zu. Er ist wirklich wie ein Stier, ein großer, finsterer, rastloser Stier.
Sie umklammerte den Pokal mit Wein, den er ihr eben in die Hand gedrückt hatte. Der König hatte seinen Wein mit einem großen Schluck hinuntergestürzt und den Pokal dann beiseite geworfen. Grace hätte es ihm gern nachgemacht, aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich darauf verlassen konnte, daß ihre zitternden Arme den Pokal an ihre Lippen führten, ohne den Inhalt zu verschütten. Sie war eine überarbeitete Assistenzärztin in der Notaufnahme eines städtischen Krankenhauses. Wie in aller Welt sollte sie dem Herrscher eines mittelalterlichen Königreichs helfen können?
Boreas blieb stehen, drehte sich um und spießte sie mit einem stählernen Blick auf. Sie sammelte sich.
»Habt Ihr je von dem Rat der Könige gehört, Mylady?«
Grace schüttelte den Kopf. »Nein, Euer Majestät. Das habe ich nicht. Davon abgesehen, daß der Graf von Steinspalter ihn kurz erwähnte, nachdem er mich … nachdem er mich im Wald fand.«
Sie erwartete, daß der König sie voller Mißtrauen betrachtete, so wie die Gräfin Kyrene, die anscheinend nichts von dem, was Grace gesagt hatte, für bare Münze genommen hatte. Doch Boreas nickte, als hätte er nicht eine Sekunde den Verdacht gehabt, sie könnte ihm etwas anderes als die Wahrheit sagen.
»Das überrascht mich kaum«, fuhr er fort. »Seit mehr als einem Jahrhundert hat es keinen Rat der Könige mehr gegeben, nicht seit der Barbar Thanadain aus dem Westen anmarschierte, um die Domänen zu bedrohen. Ich mußte Lord Alerain sämtliche Aufzeichnungen Calaveres durchforsten lassen, nur um das richtige Protokoll zu finden, mit dem man einen Rat einberufen kann.«
»Dann wart Ihr es, der den Rat einberief, Euer Majestät?« fragte Grace und wunderte sich direkt danach über ihre Kühnheit. Der Impuls, den Wein zu trinken, überwand die Furcht, ihn zu verschütten. Sie hob den Pokal und schaffte es tatsächlich, etwas von der Flüssigkeit in den Mund zu gießen. Sie schluckte. Der Wein war kühl, vollmundig und rauchig. Sie nahm noch ein paar Schlucke und setzte den Pokal dann ab.
Der König warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Ja, ich berief den Rat ein. Jemand mußte es tun.« Er ballte eine große Hand zu einer noch größeren Faust. »Bei Vathris, ich dachte nicht daran, hier auf meinem Thron zu sitzen und darauf zu warten, daß sich einer dieser anderen närrischen Monarchen dazu durchringt, während die Domänen rings um mich herum auseinanderfallen!«
Grace sprang einen halben Schritt zurück, als könnte Boreas' Zorn sie wie Feuer verbrennen. Das würde sie lehren, einem König Fragen zu stellen. Es war Zeit, diese Scharade hier und jetzt zu beenden. Es gab nichts, was sie tun konnte, um König Boreas zu helfen. Sie sammelte ihre Willenskraft und sagte sich, daß es nicht schlimmer sein könnte, als einem der Oberärzte in der Notaufnahme zu sagen, daß seine Diagnose völlig falsch war. Schließlich hatte sie das oft genug durchgemacht.
»Ich verstehe Eure Dringlichkeit, Majestät.« Sie versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu halten. »Aber ich verstehe wirklich nichts von Königen oder Ratsversammlungen, darum halte ich es für das beste, ich …«
Boreas verwarf ihre Worte mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Unwichtig. Je weniger Ihr über die Ränke der Hofpolitik wißt, desto besser ist es sogar. Ein Außenseiter hat immer einen klareren Blick über den Sumpf als diejenigen, die darin herumstapfen. Darüber hinaus, Mylady, bedeutet das, daß ich tatsächlich in der Lage sein könnte, Euch zu vertrauen. Und das ist heutzutage eine fürwahr seltene Tugend.« Er bückte sich und streichelte einer der Bulldoggen über den Kopf.
Grace preßte die Lippen aufeinander. Tja, das war nun mit Sicherheit nicht der beabsichtigte Effekt. Sie würde es erneut versuchen müssen. Mühsam nahm sie ihren Mut zusammen und trat einen Schritt vor. »Aber Euer Majestät, Ihr wißt nicht, wer ich bin. Oder wo ich herkomme.«
Er schnippte mit den Fingern. »Genau!«
Grace stöhnte. Es war besser, sie hörte auf, bevor sie Boreas unabsichtlich davon überzeugte, ihr die Krone des Königreichs zu überlassen, während er ihr Hofnarr wurde.
Der König setzte sich wieder in Bewegung und schlug sich mit der Fläche der einen auf den Rücken der anderen Hand, die Stirn vor Konzentration gerunzelt. »Falls es Euch
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