Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
überraschten Aufschrei purzelte etwas Blaues in das Gemach.
»Grüße, Aryn.« Boreas verschränkte die Arme und blickte auf sein Mündel herunter.
Die Baronesse richtete sich auf und strich das Gewand glatt; sie war leichenblaß. »Ich habe nicht an der Tür gelauscht, Euer Majestät«, sagte sie. »Ich schwöre!«
»Hast du doch.«
Aryn sah entsetzt aus. »Also gut, ich habe an der Tür gelauscht, aber ich habe nichts darüber gehört, daß Lady Grace Euch helfen soll, den Rat …« Sie biß sich auf die Zunge.
Boreas schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »So langsam glaube ich, daß ich irgendwo im Laufe deiner Erziehung versagt habe, Aryn. Wer hat dir beigebracht, so zu lügen?«
Die Baronesse ließ den Kopf hängen. »Ihr, Euer Majestät.«
»Ja«, erwiderte er. »Aber es ist augenscheinlich, daß du nicht aufmerksam zugehört hast. Wenn du nicht lernst, glaubwürdiger zu lügen, wirst du am Hof keine Minute überleben.« Der König hielt die Hand an den Mund, um Grace etwas deutlich hörbar zuzuflüstern. »Ich fürchte, das arme Ding hat einen unausrottbaren ehrlichen Zug in sich, obwohl ich nicht die geringste Idee habe, wo der herstammen könnte. Irgendwo im Haus Elsandry muß Bauernblut dazugekommen sein.«
Grace unternahm nicht einmal den Versuch, darauf etwas zu erwidern.
Aryn stieß einen verloren klingenden Seufzer aus, und die Miene des Königs wurde weicher. Er legte der jungen Frau liebevoll die Hand auf die Schulter. »Aber, aber, Kind. Es ist doch nicht deine Schuld. Du hast dein Bestes versucht. Und ich bin wirklich der Meinung, daß du dich besserst.«
Auf Aryns Gesicht leuchtete Hoffnung. »Wirklich?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe gelogen. Aber siehst du, wie natürlich das klingen kann?«
Aryn seufzte erneut, diesmal verzweifelt. »Hat Euer Majestät eine Aufgabe für mich?«
»Die hat er in der Tat.«
Boreas warf Grace einen kritischen Blick zu, als würde ihm ihre Aufmachung erst jetzt auffallen. Offensichtlich war er nicht von dem erfreut, was er da sah. Sie versuchte mit reiner Willenskraft, sich in Luft aufzulösen, aber unglücklicherweise funktionierte es nicht.
»Lady Grace von Beckett wird an dem Rat der Könige teilnehmen«, sagte Boreas. »Ich wäre äußerst dankbar, wenn du ihr dabei helfen könntest, sich etwas weniger …« – er suchte nach dem richtigen Wort –, »… etwas weniger unpassend zu verhalten, was die Kleidung und das Benehmen angeht.«
Aryn strahlte wieder. Sie nickte aufgeregt. »Natürlich, Euer Majestät. Ich werde ihr alles zeigen, was eine Lady wissen muß.« Die Baronesse zwinkerte Grace zu und flüsterte: »Keine Sorge. Das wird Spaß machen.«
Grace schluckte mühsam. Spaß war nicht unbedingt das Wort, das sie gewählt hätte. Sie warf dem König einen nervösen Blick zu. Auf was in aller Welt – in dieser Welt – hatte sie sich da gerade nur eingelassen?
DRITTER TEIL
Der Weg nach Calavere
38
Die vier Reisenden brachen im hellen Licht des Spätherbstes in Kelcior auf, um die lange Reise in Richtung Süden nach Calavere und dem Rat der Könige anzutreten.
Travis und Falken bestiegen in dem schlammigen Hof hinter der alten tarrasischen Festung die Pferde, die König Kels Abschiedsgeschenk gewesen waren. Der Barde ritt einen schwarzen Hengst mit einer weißen Strähne in der Vorderlocke. Travis saß auf einem zottigen braunen Wallach mit klugen Augen und einem Stern in der Mitte der Stirn. Melia und Beltan schwangen sich auf ihre eigenen Pferde, mit denen sie nach Kelcior gekommen waren. Das Pferd des blonden Ritters war ein knochiges, geschecktes Streitroß, während Melia, das blaue Unterkleid kunstvoll drapiert, auf einem nebelfarbenen Tier mit schlanken Beinen und anmutigem Hals saß.
Früher am Nachmittag hatten sie König Kel einen Besuch abgestattet und seine Erlaubnis erbeten, Kelcior zu verlassen. Beltan hatte Travis erklärt, daß den Gesetzen der Gastfreundschaft zufolge ein Gast nicht abreisen durfte – und dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um ein Schloß oder eine Hütte handelte –, ohne vorher vom Herrn des Hauses die nötige Erlaubnis eingeholt zu haben.
»Was?« hatte Kel mit finsterem Blick gesagt, nachdem Falken in formellem Tonfall die Erlaubnis zur Abreise erbeten hatte. »So schnell?«
Sie hatten sich mit dem zottigen König in seinem Solar getroffen. Das war ein gemütliches, wenn auch enges Gemach, das sich hinter dem Vorhang befand, der das Ende der Halle abtrennte.
»Einige
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