Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Freisasse«, sagte Boreas, als hätte er die unausgesprochene Frage erahnt. »Calavan ist nicht in Gefahr, weil Ihr die Rune zerbrochen habt. Ihr habt die Rune zerbrochen, weil Calavan in Gefahr ist.« Der König seufzte und schaute auf. »Ihr dürft gehen.«
Das war vor zwei Tagen gewesen. Seitdem hatte Travis den größten Teil seiner Zeit damit verbracht, allein durch das Schloß zu wandern. Trotz Rins und Falkens Protesten hatte er seine Studien bei den Runensprechern an den Nagel gehängt. Der einzige Sinn des Studiums der Runen hatte darin gelegen, Kontrolle über seine Macht zu erlangen, und das war offensichtlich ein Fehlschlag gewesen. Wozu also weitermachen? Nur um stärker zu werden, damit er das nächste Mal mehr als bloßen Stein schädigen konnte?
Ich werde es nicht tun, Jack. Ich weiß nicht, warum du mir das angetan hast, aber bestimmt nicht dafür – nicht um andere Menschen zu verletzen.
Falken war wütend geworden, als er sich geweigert hatte, seine Studien wieder aufzunehmen, aber zu seiner Überraschung hatte Melia dem Barden eine beschwichtigende Hand auf den Arm gelegt.
»Laß ihn gehen, Falken«, hatte sie gesagt. »Er muß das allein entscheiden.«
Travis hatte ihr einen dankbaren Blick zugeworfen, und sie hatte nachdenklich genickt. Dann hatte er das Gemach verlassen. Er wußte nicht, was er auf seinen Wanderungen eigentlich zu finden hoffte, aber irgendwie beruhigten sie ihn und halfen ihm beim Nachdenken. Vielleicht wollte er bloß ein paar Trümmer seines eigenen zerbrochenen Friedens wiederfinden. Schließlich würde es nicht mehr lange dauern, bis der Sturm über sie hereinbrach.
Vor ihm wuchs eine Mauer aus ineinander verwachsenem Grün empor, mit einem steinernen Torbogen als Durchgang, aus dem ein schwacher, süßer Geruch und das Plätschern von Wasser heranwehte. Der Schloßgarten.
Travis trat unter dem Steinbogen hindurch, zögerte dann aber. Er legte den Kopf schief. Ihm war, als hätte jemand seinen Namen gerufen. Er lauschte, aber in der Ferne erklang nur das Wispern des Windes und das Plätschern des Wassers. Mehr war da bestimmt nicht gewesen. Trotzdem lockte ihn der Garten noch immer an. Er durchschritt das Tor und betrat den sich dahinter anschließenden abgeschiedenen Ort.
Trotz der späten Jahreszeit und der frostigen Luft wuchsen einige Dinge. Er konnte keine der Pflanzen benennen. Da gab es eine Schlingpflanze mit glänzenden Blättern, die an den Wänden emporwuchs, und eine Art federiges Immergrün, das in Büscheln wuchs. Der Boden war mit Blättern übersät, hoch über seinem Kopf streckten Bäume ihre kahlen Äste aus und webten ein Netz, um den herabsinkenden Himmel einzufangen.
Ein aus Steinplatten gefertigter Pfad zog Travis vorwärts, vorbei an einem vereisten Springbrunnen. Der Brunnen wurde von einem Moosteppich voller blasser Blumen umgeben, von denen jede so winzig und zerbrechlich wie eine Schneeflocke war. Sie verbreiteten den Duft eines Winterwaldes. Der Weg führte Travis tiefer in den Garten hinein. Er sträubte sich nicht dagegen. Das hier war ein friedlicher Ort.
Nein, nicht friedlich. Dazu hat er zuviel von einer Wildnis an sich. Es ist eher so, als würde er sich ausruhen und warten. Aber auf was? Oder auf wen?
Er ging weiter. Der Pfad führte unter einem weiteren Torbogen hindurch in eine Nische. Travis blieb stehen und schaute staunend auf.
Sie waren in einen Kampf um Leben und Tod verstrickt.
Man hatte sie aus weißem Stein erschaffen, aber Travis ahnte, daß der Stier auch im Leben dieselbe Farbe gehabt hätte. Er konnte fast die Muskeln sehen, die sich unter der milchigen Haut spannten, wie sie sich zusammenzogen, als er gegen den Krieger anrannte.
Der Mann war nackt und schön. Steinerne Locken fielen ihm in die Stirn. Das Antlitz war stolz, wild und zu perfekt für einen normalen Menschen. Wie bei dem Stier verliefen Muskelstränge unter der glatten Oberfläche der Haut, traten an den breiten Schultern hervor, den schmalen Hüften, den kräftigen Beinen. Der dicke Pfahl seines Phallus stand aufgerichtet da. Eines stand für Travis unumstößlich fest: Wäre der Krieger aus Fleisch und Blut statt aus Stein gewesen, es hätte keine lebende Person gegeben, die sich seinem Willen oder Forderungen hätte widersetzen können. Oder seinem Messer.
Der Krieger hielt das Messer in der linken Hand, und der Bildhauer hatte ihn in dem Augenblick eingefangen, in dem er dem Stier die Klinge in die Kehle gestoßen hatte. Der Schädel des
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