Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
blieb wie schon seit Jahrhunderten. Die Herrscher hatten sich kaum gesetzt, als Boreas auch schon die Hände auf die Kante des runden Steintisches legte und wieder aufstand.
»Vergangene Nacht«, verkündete der König mit donnernder Stimme, »ist auf König Kylar von Galt ein Mordanschlag verübt worden.«
Ein Aufstöhnen durchlief den Saal. Die anderen Herrscher starrten Boreas an – mit Ausnahme von Kylar, der sich in seinem Stuhl klein machte, da ihm die Aufmerksamkeit anscheinend unangenehm war. Grace zuckte innerlich zusammen. Boreas verschwendete wahrlich keine Zeit.
»Ist das wahr?« fragte Sorrin von Embarr in seiner tiefen, aber dumpfen Stimme.
Kylar nickte. »Ich f-f-fürchte, d-d-as ist es.«
Lysandir roch an einem mit goldenem Stickwerk verzierten Taschentuch. »Ich muß sagen, für jemanden, der ermordet wurde, seht Ihr heute aber erstaunlich wohlauf aus, Euer Majestät.«
»Glücklicherweise«, sagte Boreas.
Der König von Brelegond stieß ein schrilles Lachen aus. »Glück? Das ist kein Wort, das in Verbindung mit König Kylar von Galt benutzt wird.«
Boreas schaute Lysandir finster an. »Was ist, König Lysandir? Seid Ihr enttäuscht, daß das Attentat gescheitert ist?«
Lysandir ließ das Taschentuch fallen. Selbst ohne die dicke Puderschicht wäre sein Gesicht leichenblaß gewesen. »Was wollt Ihr damit sagen, König Boreas?«
»Was glaubt Ihr, daß ich damit sagen will?« knurrte Boreas.
Ivalaine erhob sich. Augenblicklich richteten sich alle Blicke auf die anmutige Königin. »Wollt Ihr ein Mitglied dieses Rates etwa beschuldigen, dieses schreckliche Verbrechen befohlen zu haben, Euer Majestät?« fragte sie Boreas.
Er ließ den Blick durch die Runde wandern, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ihr müßt wissen, ich weiß bereits, wer hinter dem Mordkomplott steckt, denn einer meiner eigenen Leute hat sich in einem Akt des Verrats mit dem Feind verbündet.«
Ein erneutes Aufstöhnen ging durch die Zuschauer.
Persard hob interessiert eine zottige weiße Braue. »Tatsächlich, König Boreas? Ein Verräter an Eurem eigenen Hof? Wer ist dieses Individuum, und was wird mit ihm geschehen?«
Boreas schien die Worte zu zerkauen, bevor er sie aussprach, und es war allen ersichtlich, daß er sie bitter fand. »Es war Lord Alerain, und er ist tot.«
Es brauchte mehrere Minuten und ein paar energischer Gesten des Königs von Calavan, bevor in dem Saal wieder Ruhe einkehrte. Grace war klar, daß die Nachricht von Alerains Verrat für jedermann ein Schlag war, ganz besonders für den Adel Calavans. Wenn schon der stets gute und phlegmatische Alerain nicht gegen einen Verrat gefeit war, wer dann? Aber Grace kannte die Wahrheit. Es gab finstere Gaben, denen nicht einmal gute Männer die Kraft zu widerstehen hatten. Was hatte Alerain geglaubt, mit seinem Herzen zu erkaufen? Daß die Finsternis Calavan verschonte, wenn er einwilligte, dem Feind zu helfen? Wenn das zutraf, war es eine vergebliche Hoffnung gewesen.
»Das sind unheilvolle Neuigkeiten, Euer Majestät«, sagte Sorrin. Das Gesicht des Königs von Embarr war noch hagerer und blasser als sonst. »Aber Ihr habt uns noch nicht verraten, wer dieser Feind ist, mit dem sich Alerain verbündete, und wer den Tod Kylars von Galt wünschte. Sagt uns, wer ist für diese verruchte Tat verantwortlich?«
Stille senkte sich über das Ratsgemach, und jedermann beugte sich vor, damit ihm nichts entging. Boreas schaute jedem der Herrscher nacheinander in die Augen.
»Ich werde es Euch sagen«, sagte er leise. »Und danach werde ich den Rat zur Abstimmung rufen, denn wenn ihr gehört habt, was ich gleich sagen werde, werdet ihr begreifen, daß es nur eine Handlungsmöglichkeit gibt.« Er holte tief Luft. »Das Komplott, Kylar zu ermorden und die Entscheidung dieses Rats zu ändern, wurde vom Rabenkult ausgeführt, der unter der Kontrolle des Fahlen Königs steht.«
Graces Herz tat einen Sprung in ihrer Brust. Er hatte es gesagt. Boreas hatte es gewagt, dem Rat die Wahrheit zu sagen! Falken sprang auf die Beine. Alle Anwesenden starrten den Rat an, als wären das die letzten Worte, die sie von Boreas erwartet hätten, und für Falken galt das gleich doppelt.
Grace legte eine Hand an den Ausschnitt ihres Gewandes, da sie nicht zu atmen wagte. Der Rat kann sich ihm jetzt nicht mehr verweigern. Boreas hat ihnen seinen eigenen Seneschall präsentiert, sie können das nicht einfach unberücksichtigt lassen. Sie müssen für die
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