Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
und ließ ihn husten. Er und Kyrene sahen gleichzeitig auf. Zwei Gestalten traten durch den Eingang der Nische: eine kleine Frau in einem dunkelblauen Unterkleid mitsamt passendem Überrock und ein Mann mit einem einzelnen schwarzen Handschuh.
Kyrenes Blicke glichen zwei smaragdgrünen Dolchen. »Er gehört Euch nicht, Melindora Nachtsilber.«
»Er wird aber auch nicht Euch gehören, Kyrene.« Melias kupferfarbenes Gesicht war zu einer zornigen Maske erstarrt. »Ich habe Euch befohlen, Euch von ihm zu entfernen.«
»Tritt zurück, Travis«, sagte Falken in ernstem Tonfall. »Sofort.«
Travis verstand nicht, was hier vor sich ging, aber er gehorchte. Es war ihm ein Rätsel, wie Melia immer wußte, wo er zu finden war, aber er war wieder einmal dankbar dafür.
Kyrene zögerte, dann schien sie eine Entscheidung zu fällen. Sie nahm das Kinn hoch. »Ich habe keine Angst vor Euch, Melindora. Ihr seid nicht mehr das, was Ihr einst wart.«
Travis hörte gebannt zu. Wovon redete sie da?
»Das ist wahr«, sagte Melia. Sie kam heran, bis sie nur noch wenige Zentimeter von der Gräfin trennten. Ihre Stimme klang kühl und gefährlich. »Andererseits verfüge ich noch immer über einige Verbindungen. Ich bin ziemlich sicher, ich könnte es arrangieren, daß Ihr nie wieder Zugang zur Gabe habt, Kyrene.«
Kyrenes mutiger Ausdruck geriet ins Schwanken, sie erbleichte. »Das könnt Ihr nicht tun! Das würdet Ihr nicht tun!«
Melia lächelte. Es war kein gütiges Lächeln. »Seid Ihr Euch da ganz sicher … meine Liebe?«
Kyrene öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Sie sah in Falkens grimmiges Gesicht, dann in Melias. Sie machte den Mund zu, raffte ihr Gewand hoch und eilte aus der Nische – aber nicht, bevor sie Melia noch einen haßerfüllten Blick zugeworfen hatte.
Falken hob eine Braue. »Man könnte glauben, sie mag uns nicht.«
Melia schnaubte. »Entweder man hat Geschmack, oder man hat ihn nicht.«
»Und warum war Kyrene an Travis interessiert?«
»Meiner Erfahrung nach sind Hexen auf alles neugierig. Manchmal zu neugierig. Wir werden sie wohl im Auge behalten müssen.« Melia trat vor die Statue. »Ich grüße Euch, Vathris.«
Ihre Stimme klang beinahe liebevoll, was Travis merkwürdig fand. Er stellte sich neben sie.
»Er ist einer der Neuen Götter, nicht wahr?«
Melia nickte. »Ja, die Götter der Mysterienkulte sind die Neuen Götter. Es gibt viele von ihnen, nicht nur die sieben, die in den Domänen bekannt sind. Einige von ihnen verfügen über große Macht, viele nur über geringe. Die meisten ihrer Anhänger leben im tiefen Süden, in den Ländern am Sommermeer.«
Travis dachte über das Gehörte nach. Wieso wußte Melia so viel? Dann kam ihm die Erleuchtung. »Ihr kommt aus dem Süden, Melia, nicht wahr?«
Sie pflückte ein Blatt von einer Schlingpflanze und spielte damit herum. »Ja«, sagte sie gedankenverloren. »Ja, einst lebte ich dort. Manchmal sehe ich noch immer die roten Klippen von Urundar vor mir, und die Männer in ihren weißen Seraßs, wie sie in der Dämmerung tanzen.« Das Blatt fiel zu Boden. »Aber das ist lange vorbei. Nun beschäftigen mich andere Dinge.«
Falken betrachtete sie nachdenklich, dann änderte sich sein Ausdruck, und er grinste wölfisch. »Eine Sache, die mich im Augenblick beschäftigt, ist das Abendessen. Wollen wir sehen, was im Großen Saal aufgetischt wird?«
Melia nickte, und sie und Falken drehten sich um und gingen. Travis zögerte. Er betrachtete die Statue von Vathris. Würde er doch nur einmal im Leben über diese Kraft verfügen, hätte er diese Kontrolle über sein Schicksal. Wenn er doch bloß …
»Wartet, ich komme mit«, sagte er und eilte hinter dem Barden und der Lady her.
32
Grace sorgte sich um Travis. Es war seltsam, wie schnell man sich an etwas gewöhnen konnte, das man nie zuvor gehabt hatte – so etwas wie Freunde –, aber im Verlauf der letzten Wochen hatte sie Travis’ Kameradschaft zu schätzen gelernt.
Am Vortag hatte sie Falken und Melia einen Besuch abgestattet. Die kleine Frau verfügte noch immer über die Fähigkeit, Grace im Handumdrehen zu entwaffnen.
»Wir behalten ihn schon im Auge, Liebes«, hatte Melia gesagt.
Wie immer erschien ihr glattes Antlitz jung und zugleich mütterlich. Das schwarze Kätzchen spielte mit dem Saum ihres Unterkleides, und Grace runzelte die Stirn. Das Tier schien nicht gewachsen zu sein, seit sie es das erste Mal gesehen hatte, und das war vor Wochen gewesen. Wuchsen
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