Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
hatte noch nie ein so einsames Lied gehört. Neben ihr schluchzte Aryn leise, Tränen strömten über ihre Wangen. Auch Grace hätte geweint, falls sie gewußt hätte, wie das geht.
Falken hob den Kopf. »Dieses Lied heißt Ulthers Klagelied. Nur wenige erinnern sich heute noch daran, aber vor tausend Jahren sang König Ulther von Toringarth diese Worte. Er sang sie, als er im blutbefleckten Schnee vor dem Zugang nach Imbrifale kniete – kalt und verwundet und besiegt. Eintausend Tote lagen um ihn herum. Es waren Wulgrim: Wolfskrieger, die am meisten gefürchteten Kämpfer in ganz Toringarth. Sie hatten mit Ulther das Wintermeer überquert, um dem Fahlen König gegenüberzutreten. Sie waren niedergemäht worden wie Gras. Hinter ihm lagen zehntausend weitere Männer tot im Tal der Schattenkluft, ermordet von einer Horde Feydrim, die mit Zähnen und Klauen noch lange an den Körpern gezerrt hatten, als die Männer schon längst gefallen waren, als ihre Schreie schon längst mit ihnen gestorben waren. Aber das ist der Fluch der Diener des Fahlen Königs: Wenn die Feydrim keinen anderen zerfleischen, so müssen sie sich selbst zerfleischen.«
Falken setzte sich in Bewegung und ging um den Ratstisch herum. »Bis auf eine kleine Schar Männer – seine letzten Grafen, sein Flaggenträger und sein Hofnarr – war Ulther allein. Er hatte versagt. Niemand würde sich dem Fahlen König jetzt noch in den Weg stellen. Falengarth war verloren. Und noch während er sich diesen verzweifelten Gedanken hingab, blickte er durch die Reißzahnspalte ins Land Imbrifale und sah den Fahlen König kommen.«
Falken hob seine Stimme, bis sie den ganzen Turm bis zu den Dachbalken ausfüllte. Die Tauben flatterten aus ihren Schlägen durch hohe Fenster in den blauen Himmel hinein.
»Die Hufe seines schwarzen Rosses schlugen Funken auf dem felsigen Boden, und der Fahle König selbst war weiß von Kopf bis Fuß. Auf seiner schneeweißen Brust funkelten drei Lichter: sie waren grau, blau und rot. Das waren die drei Großen Steine in der eisernen Halskette Imsaridur, die er den Dunkelelfen gestohlen hatte. Mit der Magie der Kette konnte der Fahle König ganz Falengarth versklaven. Und danach ganz Eldh. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Nur ein gebrochener König, eine Handvoll Männer und ein Hofnarr mit krummen Beinen, der selbst dann noch von dummen Ehrenmännern und ihren tapferen Frauen sang, als seine Tränen schon auf dem Boden zu Eis erstarrten.«
Falken hielt inne, und eine andere Stimme, tief und rauh, meldete sich zu Gehör. Es war Boreas. Sein Gesicht war nicht länger von Wut gezeichnet, doch immer noch hart. »Ihr erzählt eine traurige Geschichte, Falken. Aber Ihr seid nun einmal ein Geschichtenerzähler, und ein sehr guter dazu. Was haben Eure Worte mit diesem Rat zu tun?«
»Alles.« Falken ließ die Finger über die zerbrochene Rune gleiten und fuhr mit seiner Erzählung fort. »Mit Entsetzen sah Ulther den Fahlen König heranreiten. Sein Herz gefror. Er sah seinen Untergang vor sich, und den der ganzen Welt. Plötzlich fiel ein strahlendes Licht auf ihn. Drei vom Feenvolk kamen quer über das Schlachtfeld auf den König zugeschwebt. Sie waren groß und schlank, leuchteten so hell wie Sternenlicht und waren in hauchzartes Tuch gehüllt. Als er sie erblickte, vertrieb Bewunderung seine Furcht, und der König von Toringarth neigte sein Haupt.
›Der Fahle König naht‹, sprachen die drei Lichtelfen. ›Aber es ist noch nicht zu spät. Hebt Euer Schwert, Lord Ulther, und haltet es vor Euch.‹
Ulther war so in ihren Bann geschlagen, daß er tat, was die Elfen ihm auftrugen. Er hob sein Schwert Fellring, das aus derselben Schmiede der Zwerge stammte wie die Kette Imsaridur, und hielt die blutige Klinge empor. Als er so stand, umarmten sich die drei Elfen und stürzten sich gemeinsam auf Fellring. Ulther schrie verzweifelt auf, doch es war zu spät. Die drei waren durchbohrt. Aber die Elfen vergossen kein Blut. Statt dessen quoll strahlendes Licht aus ihren Wunden, das so grell war, daß Ulther das Gesicht abwenden mußte. Als er endlich wieder nach vorn schaute, waren die Lichtelfen verschwunden und Fellring war nicht länger blutverschmiert, sondern strahlte, als sei es aus Sternen neu geschmiedet worden.
Es blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken, denn schon ragte der Fahle König vor ihm auf. Flammen schossen aus den Nüstern seines Rosses. Hinter dem Fahlen König standen die Dreizehn, deren Gesichter schwarze Kapuzen
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