Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
eine Säulenreihe, die man in ihrer Gestaltung Bäumen nachempfunden hatte. In jeder der von den Säulen gebildeten Nischen erhob sich eine Marmorbahre, und auf jeder Bahre lag eine Statue mit vor der Brust gekreuzten Armen und einem fahlen Ring auf der Stirn. Ein unsichtbarer Luftzug verschaffte Travis eine Gänsehaut.
Es war eine Gruft. Die Gruft der Könige.
Das flackernde Licht kam von einer Kerze am anderen Ende des Raumes. Der Mann stand am Fuß einer Marmorbahre und weinte.
Travis befeuchtete die Lippen, dann rief er leise den Namen seines Freundes. »Beltan?«
Der Klang seiner Stimme hallte durch die Stille der Gruft. Travis konnte den steinernen Blick der beiden Statuen in seinem Nacken fühlen. Aber das war unmöglich, oder?
Der große Ritter sah auf, griff nach seinem Schwert und starrte in das Halbdunkel. »Wer ist da?«
»Ich bin’s, Beltan.«
Die Hand des Ritters ließ das Schwert wieder los, und er schüttelte den Kopf. »Travis? Travis Wilder?«
Travis brachte nur ein Nicken zustande.
Beltan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Was machst du denn hier?«
»Ich bin mir nicht … Ich weiß nicht …«
Es erschien ihm als falsch, sich über die gewaltige Länge der Gruft hinweg zu unterhalten. Er schluckte heftig, versuchte, das Kribbeln in seinem Nacken zu ignorieren, und setzte sich in Bewegung. Er ging an den ersten beiden Totenbahren vorbei, und ihm stockte der Atem. Sie waren so blaß und still, daß er gedacht hatte, die Statuen bestünden aus Marmor, genau wie die Bahren, auf denen sie lagen. Aber er hatte sich getäuscht.
Sie waren aus Fleisch und Blut; es handelte sich gar nicht um Statuen. In dieser Gruft ruhten alle ehemaligen Könige von Calavan. Aber allem Anschein nach sahen sie noch genauso aus wie an dem Tag, an dem sie hier zur Ruhe gebettet worden waren. Selbst in dem schwachen Licht der Kerze glänzte ihr Haar immer noch blond oder braun oder silbern, und ihre Lippen hatten die Farbe von Rosen. Nicht einmal ihre Kleidung war in den Jahrhunderten verrottet. Die Schwerter in den gefalteten Händen schienen frisch poliert zu sein.
Travis zwang sich, weiter an den Reihen der schlafenden Könige vorbeizugehen. Die ersten Herrscher trugen Pelzumhänge und Kupferringe um Hals und Arme. Die nächsten waren feiner gekleidet: aus Wolle gewebte Gewänder, goldener und silberner Schmuck. Er hatte fast die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als er die erste Königin entdeckte. Sie war wunderschön, selbst im Tod noch stolz, und hielt wie die Männer ein Schwert in den Händen. Er kam an noch mehr Königen und einigen Königinnen vorbei, bis er zu Toten kam, deren Kleidung sich kaum von der Boreas’, Alerains oder Graces unterschied. Dann überquerte er die Grenze von Schatten zu Licht und trat in den Lichtkreis der Kerze.
Der letzte König in der Reihe war ein stattlicher Mann. Zu Lebzeiten mußte er groß und kräftig gewesen sein. Selbst in dem ungenügenden Kerzenschein fiel Travis die Ähnlichkeit auf: das markante Kinn, die Adlernase, die hohe Stirn, die breiten Schultern. Sein Haar war so dunkel wie das seines Bruders, aber er war nicht so attraktiv wie König Boreas und eindeutig älter, mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht und ergrautem Bart.
Am Fuß der Bahre, auf der man König Beldreas zur Ruhe gebettet hatte, war eine Rune in den Stein gemeißelt worden. Travis erkannte sie aus seinen Studien mit Rin und Jemis. Es war Sethen, die Rune der Vollkommenheit. Er streckte die Hand aus und zog sie sofort mit einem Ruck wieder zurück. Noch bevor er die Rune überhaupt berührt hatte, kribbelte seine rechte Hand. So waren die Körper der alten Könige also konserviert worden. Die Rune Sethen war mit jeder Bahre verbunden worden. Unter ihrem Einfluß würde Stahl nie rosten und Fleisch nie verwesen.
Hinter Beldreas erstreckten sich weitere Bahren in der Dunkelheit, die alle leer waren. Insgesamt gab es wohl etwa fünfzig Stück davon, wovon ungefähr zwanzig belegt waren. Travis fragte sich, was wohl passieren würde, wenn die letzte Bahre an der Reihe war.
»Es heißt, wenn der letzte König auf der letzten Bahre zur Ruhe gebettet wird, kommt für Calavan das Ende«, sagte Beltan, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Und alle Domänen werden mit ihm untergehen. Das besagt zumindest die Legende.«
Travis erschauderte, dann fiel sein Blick auf die leblose Gestalt von Beldreas. »Dein Vater sieht aus, als sei er ein mächtiger König gewesen.«
Beltan nickte.
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