Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
außerordentlich schwer, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, aber sie machte Fortschritte, und dieses ehrliche Lachen war eindeutig.
Als sie durch das Schloß streiften, erzählte Travis von seinen Studien mit den Runensprechern. Grace hörte interessiert zu – sie war also nicht die einzige, die auf dieser Welt neue Fähigkeiten entdeckt hatte –, aber sie erzählte ihm nichts von ihrem eigenen Unterricht.
»Hier entlang«, sagte sie und bog in einen abzweigenden Korridor.
Sie brachten den ganzen Nachmittag damit zu, das Schloß abzusuchen. Nach mehreren Stunden taten ihr trotz ihrer weichen Hirschlederstiefel die Füße weh, und sie hatte vom Untersuchen der vielen Türen einen steifen Nacken. Travis war reizbar geworden. Grace konnte einen durch Hunger verursachten Stimmungsumschwung auf Anhieb erkennen. Es war an der Zeit, die Sache für den Tag ruhen zu lassen.
Sie drehten um, um sich auf den Rückweg zu machen, und entdeckten plötzlich eine kleine Tür in einem Alkoven. Wären sie weiter geradeaus gegangen, hätten sie sie ganz bestimmt übersehen. Grace konnte nicht genau sagen, ob sie von Neugier oder von Instinkt getrieben wurden, jedenfalls gingen sie beide darauf zu. Sie sah sofort, daß die Rune des Raben ins Holz geschnitzt war, mit zwei sich überkreuzenden Linien darunter. Grace und Travis sahen sich an, und es war, als flösse eine seltsame Energie zwischen ihnen. Sie hatten eine Entdeckung gemacht.
Diese Tür war genausowenig verschlossen wie die letzte, und sie traten ein. Grace rieb sich fröstelnd die Arme. Der Raum war eiskalt und wurde offensichtlich seit Jahren nicht mehr genutzt. In einem der schmalen Fenster fehlte die Scheibe, und das einzige Möbelstück war ein Bett, das so aussah, als würde es schon zusammenbrechen, wenn man nur ein Daunenkissen darauf warf. In einer Wand klaffte ein Loch, dahinter baumelten die Überreste eines Speiseaufzugs an einem abgenutzten Seil. Es war also einmal ein Dienergemach gewesen. Gab es wohl einen Grund, warum es nicht mehr genutzt wurde? Oder hatte man es einfach vergessen? Calavere war so groß, daß wahrscheinlich ständig Räume verloren und gefunden wurden.
Nachdem sie ein paar Minuten lang ergebnislos gesucht hatten, waren ihre Hände ganz taub vor Kälte. Grace und Travis eilten zurück in den Gang und schlossen die Tür.
»Du bist doch Ärztin«, sagte Travis. »Können Finger so hart gefrieren, daß sie abbrechen?«
»Da müßte man schon in flüssigen Stickstoff fassen«, sagte Grace mit klappernden Zähne.
»Ich glaube, der Raum war fast genauso kalt.«
Grace sah zur Tür zurück, und sie war sich nicht so sicher, ob sie nur wegen der Raumtemperatur fröstelte. Travis hatte vermutet, daß noch mehr Räume mit der Rabenrune markiert sein könnten, und nun hatten sie den Beweis dafür gefunden. Aber welche Bedeutung steckte dahinter? Genau wie der andere Raum zuvor hatte auch dieser keine Antwort darauf gegeben.
»Ob die Diener in meinem Gemach wohl ein Feuer angezündet haben?« fragte Grace, als sie weitergingen. Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als sie die Worte am liebsten auch schon wieder zurückgenommen hätte. Ob Travis es wohl anmaßend von ihr fand, daß sie erwartete, daß sich die Diener um ihre Bedürfnisse kümmerten? Doch es schien ihm nichts auszumachen.
»Unser Gemach ist ganz in der Nähe«, sagte Travis, »und Melia läßt das Feuer nie ausgehen. Ihr Kätzchen legt sich gern davor.«
Grace runzelte die Stirn. »Wenn sie jetzt nur noch lernen würde, mit Menschen so gut umzugehen wie mit Katzen.«
Travis mied ihren Blick. »Komm«, sagte er, »es ist nicht mehr weit.«
Grace seufzte und starrte seinen Rücken an. Wie kam es bloß, daß sie mit einem Skalpell Leute heilen konnte, aber ihre Worte immer neue Wunden aufrissen? Das war ihr ein genauso großes Rätsel wie die markierten Räume. Sie hob den Saum ihres schweren Gewandes an und folgte Travis.
18
Travis sah von seiner Wachstafel auf und stöhnte leise. Er hatte das Gefühl, als ob hundert der Dunkelelfen, von denen Falken immer Geschichten erzählte, mit ihren Zwergenhämmern auf seinen Nacken einschlügen.
Er blickte aus dem Fenster und zwang seine Augen, sich auf weit entfernte Dinge zu konzentrieren: die rechteckige Spitze eines der Wachtürme des Schlosses, ein Wächter, der auf einer mit Zinnen versehenen Brüstung stand, eine Flagge, die vor dem feuerroten Himmel flatterte. Die Sonne ging schon unter, und er hatte die
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