Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
wie in einer Höhle. Travis trat ein und schloß die Tür, ließ den letzten Teil des Tages draußen.
Er blieb stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Ein Umriß nach dem anderen schälte sich aus den Schatten: Packkartons, leere Fässer, ein Stapel Stühle, der alte gußeiserne Boiler des Saloons. Travis suchte sich einen Weg vorbei an dem Gerümpel, schritt durch eine Tür und trat in den Gastraum des Mine Shaft.
Hier war es heller – durch die kleinen Fenster drang Tageslicht hinein –, und Travis sah ihn sofort. Max kehrte ihm den Rücken zu und saß über etwas gebeugt an einem Tisch, die langen, verfilzten Haare nicht zusammengebunden. Ein leises Geräusch nahm zu und wieder ab. Es erinnerte an Gemurmel. Oder einen Singsang.
Travis ging an den leeren Stühlen vorbei; seine Stiefel aus eldhischem Leder verursachten auf dem Boden nicht den geringsten Laut. Er blieb vor Max’ Tisch stehen, aber sein Partner beugte sich noch immer über das zerkratzte Holz und sortierte und zählte.
»Was ist das, Max?«
Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber sie zerschmetterten die Stille. Max schaute mit wildem Blick auf; das verfilzte Haar fiel ihm aus dem Gesicht. Travis hatte sich für das Schlimmste gewappnet, trotzdem trat er einen Schritt zurück.
»Oh, Max …«
Max’ Blick schwankte, verlor ständig den Fokus, wurde aber schließlich klarer. »Travis?«
Es klang wie das Krächzen eines Mannes, der sich in der Wüste verirrt hatte, und Max sah genauso aus. Seine Haut war dunkel, das Fleisch war fast bis auf die Knochen abgemagert; seine Lippen waren aufgesprungen und sonderten eine farblose Flüssigkeit ab. Seine Kleidung war zerzaust, der Verband um seine rechte Hand war gelb und verkrustet. Doch von ihm ging kein Geruch aus – abgesehen von einem trockenen Duft, der an von der Sonne gebackenen Staub erinnerte. Auf dem Tisch standen ein Medikamentenfläschchen, eine Plastiktüte und zwei Stapel Pillen. Die Pillen glänzten und waren purpurfarben; auf jeder prangte ein weißer Blitz.
Travis starrte die Pillen an. »Max, was tust du da?«
Max grinste, eine schreckliche Karikatur seiner sonstigen Fröhlichkeit. »Du kennst mich doch, Travis … immer am Zählen.«
Max schob die Pillen in das Fläschchen. Eine rollte vom Tisch und kullerte über den Boden. Max warf sich mit schockierender Schnelligkeit aus dem Stuhl, kroch auf allen vieren, schnappte sich die Pille mit der zitternden linken Hand und stopfte sie sich gierig in den Mund. Er schluckte sie trocken herunter, dann kniff er die Augen zusammen. Ein paar Herzschläge vergingen, dann hörte das Zittern auf, und seine dünnen Schultern sanken mit einem Seufzen herab.
Als er die Augen wieder öffnete, waren sie klar wie ein Wirbelsturm. »Jetzt ist alles besser«, sagte er und lachte.
Das Lachen ließ Travis frösteln.
Max fing an, sich am Tisch hochzuziehen. Travis streckte die Hand nach ihm aus, um ihm zu helfen.
»Nein! Faß mich nicht an!«
Es war das Knurren eines verwundeten Tieres. Travis wich unwillkürlich zurück und riß die Hand zur Brust hoch. Max stolperte auf die Füße. Seine Augen waren nun heller, in ihnen brannte es fiebrig.
»Was geschieht mit dir, Max?«
Der Ausdruck auf Max’ Gesicht war zwischen Erstaunen und Furcht anzusiedeln. Aber vielleicht war die Distanz zwischen beidem gar nicht so groß. »Ich weiß es nicht, Travis. Es ist, als würde ich klarer. Gleichzeitig klarer und leichter. Alles, was ich immer für real oder wichtig hielt, erscheint mir jetzt so verschwommen. Die Stadt, der Saloon, die Menschen. Ich kann sie kaum erkennen. Aber andere Dinge … sie sind so hell, so scharf umrissen, daß ich mich frage, warum ich sie nie zuvor gesehen habe.«
»Was für Dinge, Max? Wovon sprichst du?«
Aber Max lächelte bloß und schüttelte den Kopf.
Travis’ Blick richtete sich auf das Pillenfläschchen auf dem Tisch. »Was ist das, Max? Hat dir der Arzt die verschrieben?« Aber auf dem Fläschchen befand sich kein Etikett, und bevor Max die Frage beantworten konnte, wußte Travis die Antwort schon. Er hatte solche Pillen noch nie zuvor gesehen, aber was sollte der kleine Blitz sonst symbolisieren? »Es ist Electria, nicht wahr?«
Max nahm das Fläschchen. Er schob es in die rechte Ellenbeuge. Die knochigen Finger seiner linken Hand kämpften mit dem Verschluß und streiften ihn schließlich über.
»Ich weiß nicht, woher sie es wußten. Ich selbst hatte es
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