Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
mit dem zurechtkommen, was man hatte, und sie war eine gute Reiterin, und das auch schon, bevor sie darin viel Übung erlangen konnte.
Zu schade, daß du Menschen nicht so gut wie Pferde kontrollieren kannst, Grace.
Der Gedanke ließ sie innerlich zusammenzucken. Aber die Stimme in ihrem Kopf klang mittlerweile hohl, die Worte waren bitter, aber leer. Grace hatte noch immer ihre Schwierigkeiten, mit Menschen zurechtzukommen – mit gesunden, am Leben teilhabenden Menschen. Ihr war klar, daß sich das niemals ändern würde. Aber sie hatte gelernt, daß sie nicht perfekt sein mußte, um Freunde zu haben. Wenn andere einem Sympathie entgegenbrachten, schienen sie die erstaunliche Fähigkeit zu entwickeln, sämtliche vorhandenen Fehler, die man hatte, einfach zu akzeptieren. Einen Körper konnte man in seine verschiedenen Teile aufteilen: Organe, Flüssigkeiten, Knochen. Aber langsam kam Grace zu dem Schluß, daß man Menschen als Ganzes nehmen mußte.
Sie schwang ein Bein über den Sattel, versuchte zu Verhindern, daß es sich in Metern von violettem Leinen verhedderte, und ließ zu, daß Durge sie mit seinen harten, kräftigen Armen auffing und am Boden absetzte. Sie lächelte ihn dankbar an. In einem hatte Kyrene recht gehabt: Männer konnten nützlich sein.
Der Gedanke an Kyrene ließ ihr Lächeln verblassen. Manchmal, wenn sie im Schloß um eine Ecke bog, erwartete sie, auf eine Dame mit grünen Augen zu stoßen, die in ein enthüllendes Gewand gekleidet war und ein durchtriebenes Lächeln auf den korallenroten Lippen trug. Wenn die Vergangenheit tatsächlich ein Schatten war, war ihre Berührung flüchtig, so wie eine Wolke, die die Sonne verdeckte und schnell weiterzog.
Durge half Lirith beim Absteigen, und Grace sah zu Aryn hinüber. Garf half ihr von ihrem Pferd – einer weißen Stute –, und falls die Hände des jungen Ritters dabei einen Augenblick länger als eigentlich nötig auf ihrer schlanken Taille liegenblieben, schien sie es nicht zu bemerken. Er trat zurück und verbeugte sich, aber sie hatte ihm bereits den Rücken zugewandt.
»Eine gute Wahl, Sir Garfethel«, sagte Lirith, drehte sich im Kreis und breitete die Arme aus, als würde sie die Wärme und das Leben der Senke in sich aufnehmen.
Und vielleicht tut sie genau das.
Grace warf Lirith einen Blick zu, und die Hexe lächelte zurück. Was dieses Lächeln bedeutete, blieb ein Geheimnis, aber es war nicht affektiert, so wie es bei Kyrene immer der Fall gewesen war. Statt dessen versprach es ein Geheimnis und eine Einladung.
Lirith ging zum Bachufer, geschmeidig wie ein Reh in ihrem rotbraunen Reitgewand, und die beiden Ritter folgten; jeder von ihnen eine Satteltasche in der Hand.
Grace ließ sie vorangehen, aber Aryn blieb bei ihr, als wüßte sie, daß Grace mit ihr sprechen wollte.
»Können wir ihr vertrauen?« fragte Aryn, bevor Grace es aussprechen konnte.
»Aryn, ich weiß es nicht. Können wir überhaupt einer Hexe vertrauen?« Es war nicht das erste Mal, daß sie dieses Thema besprachen. »Manchmal bin ich mir nicht mal mehr sicher, daß wir uns selbst vertrauen können.«
»Ich kann mir selbst vertrauen«, sagte Aryn.
Grace blieb unvermittelt stehen und starrte ihre Freundin an. Die Worte waren leise und hart gewesen. Sie suchte in Aryns Miene nach Stolz oder Wut oder Leid – irgend etwas, irgendeine Emotion, die ihr einen Hinweis geben würde, wie sie reagieren sollte. Aber wie gewöhnlich war das hübsche Gesicht der Baronesse blaß und reglos.
»Lirith trägt ihre Geheimnisse zur Schau«, fuhr Aryn fort. Sie legte den linken Arm unter die Brust. Der verkümmerte, dürre rechte Arm war wie immer unter einem Tuch verborgen. »Manchmal glaube ich, es macht ihr Spaß, uns zu verblüffen. Dieses Lächeln – sie muß es absichtlich tun.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Grace, nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte. »Lirith ist nicht so wie Kyrene. Sie hat Geheimnisse, ja, und sie sind verborgen. Aber ich glaube, es ist unsere Aufgabe, den Schlüssel zu finden. Ich glaube, das versucht sie uns zu sagen.«
»Vielleicht«, erwiderte Aryn, aber ihre glatte Stirn legte sich in Falten.
Grace musterte ihre Freundin, aber was auch immer nicht mit ihr stimmte, überstieg ihre diagnostischen Fähigkeiten. Während jener finsteren und bemerkenswerten Ereignisse beim letzten Wintersonnenwendfest war etwas mit Aryn geschehen, aber Grace wußte nicht, was es war, und die Baronesse hatte in den seitdem vergangenen
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