Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
hinter ihr standen. In diesem Augenblick sah er so sehr wie ein kleiner Junge aus, daß Grace beinahe der Mut verließ. Aber ein Nicken Durges verlieh ihr Kraft. Sie ergriff das Schwert aus Boreas’ Waffenkammer, und noch während sie fürchtete, mit der schweren Waffe nicht zurechtzukommen und ihm den Kopf abzuschlagen, tippte sie mit chirurgischer Präzision einmal auf jede seiner Schultern.
»Erhebt Euch«, sagte sie dann, und die Absurdität des Ganzen hätte sie um ein Haar lachen lassen. Nur daß in genau diesem Augenblick die Sonne über die Burgmauer stieg und Garf in ihrem goldenen Glanz so stolz und edel aussah, daß der plötzliche Kloß in ihrem Hals ihre Heiterkeit unterdrückte.
»Weint nicht, Mylady«, sagte er, und sie lachte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Warum sagten ihre Ritter ihr das immer?
Danach führte Durge ein scheckiges Schlachtroß in den Hof, das schnaubte und mit den Beinen stampfte, und Garf vergaß prompt seine neue Herrin, während er sich in sein Pferd verliebte. Grace warf Durge einen dankbaren Blick zu. An das Schwert hatte sie gedacht, aber sie hatte vergessen, daß ein Ritter ein Kriegspferd brauchte.
Danke, flüsterte sie ihm lautlos zu.
Er hatte genickt, und obwohl sie nicht genau verstehen konnte, was er unter seinem Schnurrbart sagte, hätte es so etwas wie Ich bin Euch immer zu Diensten, Mylady sein können.
Jetzt drehte sich Durge im Sattel zu Garf um und betrachtete ihn ernst. »Ihr verharmlost die Gefahr, Sir Garfethel. Was wäre, wenn unsere Herrin uns weit vorausreitet und auf eine Horde Straßenräuber trifft?«
»Dann würden sie erleben, wie sie ein Zauber trifft«, erwiderte Garf. »Und wenn wir zu unserer Herrin stoßen, würden wir sehen, wie sie den Finger schwenkt, während die Räuber mit Blumen im Haar im Takt um sie herumtanzen.«
Lirith schlug beide Hände vor den Mund, und selbst Aryn – die in diesen Tagen so selten lachte – mußte bei Garfs Worten lächeln. Doch Durge sah noch weniger amüsiert als üblich aus. Grace wußte, daß sie etwas sagen mußte. Soweit es sie betraf, bestand die hauptsächliche Pflicht einer edlen Herrin in Schadenskontrolle.
»Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Sir Garfethel«, sagte sie. »Aber Sir Durge hatte natürlich recht. Es war nicht richtig von mir, so weit vorauszureiten.«
»Obwohl ich gern die tanzenden Räuber gesehen hätte«, sagte Lirith.
Grace sah sie an. Manchmal war schwer zu sagen, ob Lirith es ernst meinte oder einen Scherz machte. Vielleicht gab es für sie da keinen Unterschied.
Lirith war nicht lange nach Königin Ivalaines Abreise auf Calavere eingetroffen. Das war Ende Durdath gewesen, und obwohl die Welt noch in Eis erstarrt war, waren die verschiedenen Herrscher, die zum Rat der Könige nach Calavere gereist und geblieben waren, als er in Kriegsrat umbenannt wurde, in ihre eigenen Domänen zurückgekehrt. Ivalaine war als letzte abgereist, und Grace und Aryn hatten sich in ihre pelzbesetzten Umhänge eingemummt in den Unteren Burghof begeben, um sich zu verabschieden.
Die Königin saß auf ihrem weißen Pferd, und sie war genauso majestätisch wie an dem Tag ihrer Ankunft vor den Toren Calaveres, als Grace sie das erste Mal gesehen hatte. Ein Tag, der nun schon so lange vorbei schien. Zuerst verabschiedeten sie sich von Tressa, der Beraterin der Königin, und die beleibte rothaarige Hexe stieg vom Pferd, um jeder von ihnen eine mütterliche Umarmung zukommen zu lassen. Grace spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, aber als sie sich der Königin zuwandte, gefroren sie zu Eis. Nach allem, was passiert war, konnte sie Ivalaine noch immer nicht einschätzen. Die Königin war so kalt wie die Sterne, und genauso unerreichbar.
»Wir werden weiterlernen, Majestät«, sagte Aryn.
Ivalaines eisfarbene Augen leuchteten. »Ja, Schwestern«, sagte sie. »Das werdet ihr.«
Eine Woche später, am ersten Tag des Erenndath, kam Lirith in Begleitung zweier tolorianischer Ritter ans Schloßtor geritten. Sie bat darum, mit Lady Grace und Lady Aryn zu sprechen, und zwar noch bevor sie König Boreas um Gastfreundschaft bat.
»Ich grüße Euch, Schwestern«, sagte Lirith in der Eingangshalle des Schlosses zu ihnen. »Königin Ivalaine bat mich darum, schnell von Ar-Tolor herzureisen. Ich bin gekommen, um Euch bei Euren Studien zu helfen.«
Grace hatte geglaubt, die Worte der Hexe würden sie mit Schrecken erfüllen. Bis jetzt hatte König Boreas noch nicht entdeckt, was Aryn und
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