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Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm

Titel: Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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Monaten nicht darüber gesprochen.
    So gesehen sind Geheimnisse nicht nur Liriths Gebiet. Wir alle haben unsere Geheimnisse, nicht wahr, Grace?
    Sie seufzte und setzte sich wieder in Bewegung, und Aryn schloß sich ihr an.
    Trotz Liriths rätselhaftem Gehabe machte der Unterricht mit ihr Fortschritte – wenn auch nur langsam. Zur Überraschung und Freude der beiden Freundinnen hatte Lirith im Gegensatz zu Ivalaine nicht mit solch alltäglichen Übungen wie der Arbeit am Webstuhl oder dem Sammeln von Kräutern begonnen. Am Tag nach ihrer Ankunft im Schloß bestand ihre erste Aufgabe darin, ein Netz der Weltenkraft zu weben. Grace genoß die Erfahrung, sie lauschte dem rauchigen Rhythmus von Liriths Stimme, stellte sich vor, wie die silbergrünen Fäden der Weltenkraft wie die Fäden des Webstuhls durch ihre Finger glitten, während sie sie zu einem schimmernden Gespinst der Macht verwob. Dann lachte Lirith, und alles fiel auseinander. Grace mußte blinzeln, und als sie die Augen wieder öffnete, war ihr nicht entgangen, daß Aryn genauso verwirrt wie sie war.
    Am nächsten Tag versuchten sie sich an der gleichen Übung. Und am nächsten und übernächsten auch, bis der Zugriff auf die Weltenkraft keine Freude mehr war, sondern eine Schinderei, zu der sich Grace nur mühsam überwinden konnte. Sie arbeitete stundenlang daran, ein Netz zu spinnen – mit geschlossenen Augen, zusammengebissenen Zähnen und pochendem Schädel –, und dann tippte Lirith ihr nur auf die Schulter, und die magischen Fäden entwirrten sich und glitten durch ihre vergeblich zupackenden Finger.
    »Versucht es erneut«, pflegte Lirith dann zu sagen, und die Übung begann von vorn.
    So ermüdend die Lektionen auch waren, kamen weder Grace noch Aryn auch nur einmal zu spät. Manchmal fragte sich Grace, ob König Boreas nicht schon längst wußte, was sie da trieben. Der Vorwand für Liriths Besuch war bestenfalls dürftig gewesen. Sie hatte eine Botschaft der Königin überbracht und Boreas gebeten, auf Calavere bleiben zu dürfen, um einen Vetter zu besuchen. Boreas hatte ihr die Bitte gewährt. Doch wer dieser Vetter eigentlich war und warum man Lirith niemals in seiner Gesellschaft sah, waren Fragen, die noch beantwortet werden wollten.
    Und da war noch etwas an Liriths Ankunft im Schloß, das Grace all die Monate gestört hatte. Und plötzlich hatte sie einen Geistesblitz, der so hell und unerwartet wie der Feuerdrache war, und sie wußte es.
    Sie ergriff Aryns Arm.
    »Grace, was ist?«
    »Erinnerst du dich daran, wie Lirith nur eine Woche nach Ivalaines Abreise auf Calavere eintraf?«
    Die Baronesse sah sie nichtbegreifend an. »Die Reise nach Ar-Tolor dauert nur eine Woche.«
    »Ja. Und das bedeutet, Lirith hätte Ar-Tolor genau in dem Augenblick verlassen müssen, in dem Ivalaine Calavere verließ.«
    »Das ergibt doch keinen Sinn. Lirith sagte, sie hätte mit Ivalaine gesprochen, und daß die Königin sie gebeten habe, uns zu besuchen.«
    Grace erwiderte Aryns Blick. »Genau.«
    Aryn riß die blauen Augen auf. Ja, sie verstand.
    »Das ist so wie bei uns«, murmelte die junge Frau. »So wie wir miteinander sprachen, beim … so wie wir damals sprachen.«
    Grace nickte. Nur daß weder Aryn noch sie es seit der Wintersonnenwende geschafft hatten, mittels der Weltenkraft nur mit ihren Gedanken miteinander zu sprechen. Bestenfalls hatte jeder von ihnen ein leises Wispern gehört, und selbst das war möglicherweise nur Einbildung gewesen. Irgendwie hatte die Dringlichkeit des Augenblicks ihnen eine Macht verliehen, die sich ihnen nun entzog. Und sie hatten es Lirith gegenüber nicht erwähnt, wie so viele andere Dinge auch, aus Angst, daß es ihnen nicht erlaubt war, es allein zu versuchen.
    »Komm schon«, sagte Grace. »Ich glaube, damit ist zumindest ein Geheimnis gelüftet.«
    Und ein neues hatte sich eröffnet. War dies etwas, das Lirith ihnen beibringen würde? Aber es gab nur eine Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen. Sie gingen zum Bach hinunter und schlossen sich den anderen an.

20
    Der Nachmittag neigte sich dem Abend entgegen. Selbst im Sommer dauerten die Tage nicht ewig. Bald würden die fünf zurück zum Schloß reiten müssen. Die Wächter würden nach ihnen Ausschau halten und darauf warten, die Tore gegen die Dunkelheit schließen zu können.
    Die Wächter konnten ein Weilchen länger warten.
    Grace ließ die Augenlider sinken. Sie saß auf einer Decke, döste in der spätnachmittäglichen Wärme und lauschte dem

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