Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
müssen.
Nein. Sie konnte es nicht. Sie konnte den Schatten nicht entkommen lassen. Ließ sie ihn frei, dann würde er sie mit Sicherheit verschlingen.
Sie ließ ihren Lebensfaden los. Die Tür fiel ins Schloß. Der Fleck verschwand.
»Grace!«
Der Schrei war sehr leise, als käme er aus weiter Ferne. Grace hörte ihn kaum. Sie griff nach Garf, aber der klägliche Rest seines Strangs zerfaserte, und das leuchtende Netz verwandelte sich in ihren Händen in ein graues Leichentuch.
22
Sie erreichten die hohen Tore von Calavere mit dem letzten Licht des Tages.
Grace und Aryn ritten an der Spitze der Gruppe, Lirith befand sich direkt hinter ihnen. Neben der dunkelhäutigen Hexe ritt Sir Meridar auf seinem Schlachtroß, ein anderer Ritter des Königs. Er war ein stiller Mann in Graces Alter, dessen sanfte Augen tief in einem von den Pocken verheerten Gesicht saßen. Meridar hatte den Zügel des gefleckten Schlachtrosses an seinen Sattel gebunden, und das reiterlose Pferd folgte dem großen Grauen. Den Schluß machten Durge und Schwarzlocke mit ihrer grimmigen, in eine Decke gewickelten Last.
Keiner von ihnen sprach, und so war es seit ihrem Aufbruch aus dem Purpurtal gewesen. Der Ritt hatte kaum eine halbe Stunde in Anspruch genommen, aber er hätte genausogut eine Ewigkeit dauern können. Aryns Gesicht war tränennaß, als sie offen schluchzte, und selbst Lirith sah erschüttert aus. In Durges Gesicht waren harte Linien eingegraben. In gewisser Weise beneidete Grace sie. Vielleicht wäre es besser gewesen, hätte sie etwas fühlen können – nur irgend etwas anderes als diese Leere. Aber Taubheit hatte auch einen Vorteil. Warum betäubte man etwas? Um keine Schmerzen zu spüren.
Sie wären vielleicht noch immer in dem Tal, hätte Sir Meridar sie nicht gefunden. Grace hatte Wiederbelebungsversuche gemacht. Sie hatte Lirith gezeigt, wie man Garfs Kopf in den Nacken legen, wie man die Lippen auf seinen Mund legen und ihn so versiegeln, wie man seine Lungen mit Luft füllen mußte. Dann hatte sich Grace an seiner Brust an die Arbeit gemacht – endlos, brutal, noch lange nachdem es sinnlos geworden war, nachdem sie die Rippen hatte brechen hören. Und noch immer hatte sie nicht aufgehört, nicht einmal, als Aryn sie schluchzend darum gebeten hatte, nicht einmal, als Durge die starken Hände auf ihre Schultern gelegt und versucht hatte, sie von ihm wegzuziehen.
Sie hörte erst auf, als das Donnern von Hufen auf dem Felsboden ertönte. Augenblicke später ritt Meridar ins Tal. Vom Rücken seines Schlachtrosses sah er den Bärenkadaver, dann die Gestalt, die vor Grace auf dem Boden lag. War die Kunde, was geschehen war, schon irgendwie bis ins Schloß gedrungen? Dann ergriff er das Wort, und sie begriff, daß das unmöglich war.
»Lady Grace, ernste Dinge warten auf Euch. Dem, was ich hier sehe, entnehme ich, daß Eurer Gruppe eine schreckliche und traurige Sache zugestoßen ist. Doch ich überbringe den Befehl König Boreas’, sofort zu ihm zu kommen, und trotz der Geschehnisse muß diesem Befehl so schnell wie möglich Folge geleistet werden.«
Meridars Blick war verständnisvoll, aber seinen Worten hatte eine gewisse Schroffheit angehaftet – ihre Schärfe sollte nicht verletzen, sondern die Lähmung durchdringen, sie daran erinnern, daß sie selbst jetzt in diesem Augenblick edle Pflichten zu erfüllen hatten. Grace lehnte sich zurück, ließ die Hände von Garfs Brust gleiten und starrte den mitgenommenen Körper an, der noch vor so kurzer Zeit gesund und stark gewesen war. Manchmal reichte keine Macht der Welt aus.
Aber du hattest die Macht, Grace. Du hast sie gehabt, sie gesehen, und du hast es mit der Angst bekommen …
Als sie die Wachtürme des Schlosses passierten und unter dem hochgezogenen Fallgatter hindurchritten, gingen ihr diese Worte wieder durch den Kopf. Sie sah wieder den schattenhaften Fleck inmitten der Weltenkraft, fühlte ihn, und dann kniff sie die Augen zusammen und zwang das Bild weg. Sie ritten durch ein Tor in den Oberen Burghof. Die Steinmauern verloren die letzte Farbe, und die Welt versank in Dunkelheit.
Meridar stieg vor dem Stall ab, dann streckte er Grace die Hand entgegen. »Der König erwartet Euch, Euer Durchlaucht.«
Sie öffnete den Mund, dann sah sie Durge an.
»Mylady, ich kümmere mich schon um ihn«, sagte er leise.
Sie nickte, dann akzeptierte sie Meridars Hand und ließ sich auf die Pflastersteine rutschen. Der Ritter führte sie auf eine Tür zu, dann blieb
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