Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
gab es eine andere Methode?
Ohne weiter darüber nachzudenken, schloß sie die Augen und griff nach der Weltenkraft. Sie stöhnte auf, als das reiche Netz des Lebens sie eine Sekunde lang beinahe verschlang. Sie zwang sich dazu, die Kontrolle zu übernehmen und Garfs Lebensstrang von denen der Menschen, Pferde und Bäume zu isolieren. Dann hatte sie ihn. Er war so dünn und schwach, daß er in den nur in ihrer Vorstellungskraft existierenden Händen wie ein Spinnwebsfaden erschien. Sie folgte ihm zu seinem Körper.
»Ja, Schwester«, flüsterte eine Stimme. Lirith. »Ja, benutzt die Gabe. Ivalaine hatte recht. Ihr seid damit gesegnet.«
Grace zögerte. Aber hatte sie dergleichen nicht schon Hunderte von Malen in der Notaufnahme gemacht? Vielleicht nicht bewußt, aber sie hatte diese Macht – ihre Macht – dazu benutzt, um auf eine Weise, die kein Monitor vollbringen konnte, festzustellen, was anderen nun eigentlich fehlte. Sie sammelte ihre Willenskraft, dann zwang sie sich dazu, in seine Brust zu greifen.
Sein Herz schlug flatternd gegen ihre Phantomhand wie ein verwundeter Vogel in einem Käfig.
Grace riß die Augen auf. »Er hat Herzflimmern! Ich brauche null Komma fünf Milligramm Adrenalin, in einer Spritze!«
Lirith betrachtete sie mit einem undeutbaren Blick. »Eure Worte sagen mir nichts, Schwester.«
Grace schüttelte den Kopf. Sie hatte das Problem entdeckt, aber was nutzte ihr das? Es gab keinen Defibrilator, kein Adrenalin. Sein Herz schlug in einem letzten verzweifelten Versuch des Überlebens wie verrückt, und in ein paar Sekunden würde es versagen.
»Mylady, könnt Ihr nichts tun?« Durge machte eine kleine Bewegung mit den Händen.
Es dauerte einen Augenblick lang, bevor sie begriff, worum er sie bat. Dann starrte sie ihn mit offenstehendem Mund an.
Lirith nickte. »Spinnt das Netz um ihn herum, Schwester. Ihr habt die Macht dazu. Aryn und ich haben sie nicht.«
»Bitte, Grace«, sagte Aryn drängend. »Bitte, du mußt es versuchen.«
Nein, sie war Ärztin und Wissenschaftlerin. Sie hatte ihre Macht zu Untersuchungszwecken eingesetzt, ja, das schon, um zu begreifen und zu diagnostizieren. Aber das war alles. Der Rest war Medizin. Er mußte es sein.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie.
Lirith sagte es mit leiser Stimme. »Dann wird er sterben, Schwester.«
Grace befeuchtete sich die Lippen, dann griff sie mit zitternden Händen nach Garf und legte sie ihm auf die Brust. Sie befürchtete, es nicht noch einmal zu schaffen, aber sie hatte die Augen noch nicht ganz geschlossen, als sie das schimmernde Netz auch schon sah. Nur daß er jetzt nur noch mit einem hauchdünnen Faden damit verbunden war, der sich bereits auflöste, als sie danach griff. Sie kämpfte darum, ihn zusammenzuhalten, aber er war zu schwach. Der Faden glitt ihr durch die Finger. Es war keine Zeit …
Beinahe hätte sie in Gedanken gelacht. Aber natürlich – jetzt, wo sie es begriffen hatte, war es so offensichtlich. Sie mußte seinen Faden einfach nur mit dem ihren verbinden. Ihr Leben das Verbindungsglied zwischen ihm und dem großen Netz werden lassen, bis sie das Schloß erreichten. Sie griff mit einer geisterhaften Hand zu und berührte die silbergoldene Schnur, von der sie wußte, daß es die ihre war.
»Ja!« Liriths triumphierendes Flüstern schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. »Das ist es, Schwester!«
Grace brachte Garfs Lebensfaden in die Nähe ihres eigenen …
… und erstarrte.
Entsetzen füllte sie. Im Netz der Weltenkraft existierte eine Dunkelheit, ein schrecklicher schwarzer Fleck, und erst nachdem sie davor zurückgezuckt war, erkannte sie, daß ihr eigener Strang direkt dort hineinführte. Der Fleck war verborgen gewesen, aber als sie an ihrem Faden gezogen hatte, war er enthüllt worden.
Der Fleck glitt in die Höhe und nahm dabei Gestalt an: ein langes, weiträumiges Gebäude mit Fenstern wie seelenlose Augen. Bleiche Hände griffen aus der Dunkelheit nach ihr. Grace zuckte vor ihnen zurück. Die Rufe von Eulen hallten in ihren Ohren wider. Die Worte, die in ihrem Verstand erklangen, gehörten einer anderen Hexe und einem anderen Augenblick.
Viel von dem, was Ihr seid, liegt hinter einer Tür verborgen, und ich kann nicht durch sie hindurchsehen. Doch Ihr müßt wissen, daß Ihr nicht einen Teil von Euch wegsperren könnt, ohne gleichzeitig einen Teil Eurer Magie mit wegzusperren. Falls Ihr diese Macht jemals erforschen wollt, werdet Ihr diese Tür entriegeln
Weitere Kostenlose Bücher