Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
wie immer, wenn er nachdachte, als könnte sein muskulöser Körper kaum die ihm innewohnende Energie bändigen. Vor einem Monat hatte eine der Hofdamen Grace mit der Frage verblüfft, wann sie den König denn heiraten würde. Grace hatte die Hand vor den Mund drücken müssen, um das aufsteigende irre Gelächter zu unterbinden. Es war viel wahrscheinlicher, daß Boreas sie enthaupten lassen würde, als sie zu heiraten, obwohl sie objektiv gesehen zugeben mußte, daß sie in gewisser Weise gut zusammenpassen würden. Boreas war stark, aber sie hatte gelernt, daß sie genauso stark war. In mancher Hinsicht vielleicht sogar stärker.
Trotzdem wußte Grace, daß sie niemals die Königin von Calavere sein würde. Boreas bedeutete ihr viel, aber eher so, wie ihr ein Vater viel bedeutet hätte, hätte sie jemals einen gehabt. Und sie bezweifelte, daß er ihre Zuneigung brauchte. Außerdem würde Grace nie wieder jemanden an sich herankommen lassen, nicht auf diese Weise. Sie hatte um ein Haar gewagt, sich selbst davon zu überzeugen, daß sie Logren lieben könnte, nur um entdecken zu müssen, daß er ein Ungeheuer mit einem Herzen aus Eisen war. Dieser Fehler hatte sie beinahe ihr Leben und ihre Seele gekostet. Sie würde ihn nicht noch einmal machen.
Boreas begab sich zur Anrichte und füllte zwei Pokale mit Wein. Grace zuckte auf ihrem Stuhl zusammen, als ihr viel zu spät einfiel, daß sie hätte anbieten müssen, den König zu bedienen. Es war ein Fehler, für den sie auf dieser Welt im Kerker hätte landen können. Aber Boreas gab ihr einen Pokal, und sie nahm ihn dankbar entgegen und trank ihn aus. Vielleicht war das der wahre Grund, warum Boreas sie noch immer um ihren Rat und ihre Gesellschaft bat. In ihrer Nähe mußte er nicht der König sein. Er konnte einfach nur ein Mann sein: fehlerbehaftet, temperamentvoll, ehrlich.
»Ihr habt Persard während des Rates gesehen, Mylady.« Boreas schaute in seinen Wein, ohne zu trinken. »Und Ihr habt viel mit ihm gesprochen – eigentlich sogar häufiger als ich. Und ich weiß, daß Ihr die Bewunderung seines Beraters Lord Sul gewonnen habt.«
Grace biß sich auf die Lippe. Der arme Sul. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie und Durge den kleinen Mann dazu überredet hatten, mit ihnen zu sprechen, indem sie so getan hatten, als hätte es Durge auf ihn abgesehen und nur sie die Macht, den verrückt gewordenen Ritter zur Vernunft zu bringen.
»Sagt mir, Mylady, was hat diese Nachricht für uns zu bedeuten?«
Grace zwang sich, die Ereignisse dieses Tages zu vergessen, genau wie ihr blutiges Gewand, und über die Frage nachzudenken. »Das ist nicht gut, Euer Majestät. Die Entscheidung des Rates zur Zusammenarbeit ist ein großer Schritt nach vorn. Aber die Tinte auf den Verträgen ist kaum getrocknet. Persard hat einen Erben, aber der ist noch ein Säugling, und seine Gemahlin ist auch nicht viel reifer. Ich habe gehört, daß sie bei ihrer Hochzeit vor zwei Jahren gerade mal vierzehn war.«
»Siebzig Winter jünger als er«, sagte Boreas mit einem Schnauben, das sowohl Ekel wie auch Bewunderung hätte ausdrücken können, oder sogar beides.
Grace nickte. »Also haben wir eine Kindbraut und einen Erben in Windeln. Kaum die Art von Situation, bei der man sich darauf verlassen kann, daß eine zerbrechliche Allianz aufrechterhalten wird. Falls einer von Persards Herzögen oder Baronen den Plan schmiedet, die Domäne zu übernehmen, hätte er um keine bessere Gelegenheit bitten können. Andererseits habe ich auch gehört, daß Intrigen in Perridon genauso selten sind wie neblige Tage.«
»Mylady, in der Domäne Perridon ist es immer neblig«, knurrte Boreas.
»Nun, dann glaube ich, habt Ihr Eure Antwort.«
Boreas grunzte. »Also, was tun wir?«
Grace seufzte. Manchmal war das Erstellen einer Diagnose viel einfacher als das Finden des richtigen Heilmittels. »Ich weiß es nicht. Aber Lord Sul sprach sehr gut über Herzog Falderan, der in Persards Abwesenheit die Dinge am Laufen hielt. Falls er im Namen von Persards Sohn als Regent handelt, bis der Junge das nötige Alter erreicht hat, könnte die Chance bestehen, daß die Dinge stabil bleiben. Das heißt, so stabil, wie es in Perridon nun mal möglich ist.«
Ein kleiner Teil von Grace war erstaunt über ihre Analyse. Aber sie war schon immer eine gute Schülerin gewesen, und diese letzten Monate waren für sie ein Schnellkurs in Feudalpolitik gewesen.
Boreas schwieg, dann nickte er. »Vielen Dank,
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