Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
des Lebens bedeutete, das sie alle miteinander verband. Aber etwas sagte Grace, daß Lirith tiefe Wurzeln hatte, auf die sie zurückgreifen konnte und die sie stützen würden.
Was Aryn und Durge betraf, war sich Grace nicht ganz so sicher. Zweifellos hatte Durge in seinen Jahren als Krieger viele Männer sterben sehen, aber sie hatte ihre Zweifel, daß es für den unerschütterlichen Ritter jemals einfach war. Erst letztens hatte sie ihn abends an einem Fenster stehen gesehen, wie er zusammengekrümmt an der Fensterbank lehnte. Es war das allererste Mal, daß ihr der Gedanke kam, Durge sähe alt aus. Doch als sie ihn angesprochen hatte, hatte er sofort strammgestanden und energisch nach ihren Wünschen gefragt.
Du kannst ruhig weinen, Durge. Du mußt nicht immer der Felsen sein. Anweisung deiner Ärztin. Aber wie so oft in ihrem Leben hatte sie nicht gewußt, wie sie die Worte, die sie wirklich sagen wollte, auch aussprechen sollte.
»Erkundigt Euch doch bitte, ob Lady Aryn etwas braucht«, hatte sie statt dessen gesagt, und er hatte genickt und war gegangen, um ihre Bitte zu erfüllen.
Im Gegensatz zu Durge hatte Aryn seit dem Zwischenfall mit überraschender und besorgniserregender Häufigkeit geweint. Grace oder Lirith – manchmal auch sie beide – hielten die Baronesse dann bei diesen Gelegenheiten im Arm, während sie lauthals schluchzte. Hatte die junge Frau von Garfs Liebe zu ihr gewußt? Vielleicht war das der Fall, aber etwas an Aryns Kummer brachte Grace zu der Annahme, daß es hier nicht nur um den getöteten Ritter ging. Grace hatte derartiges Weinen schon in der Vergangenheit gehört. Als kleines Mädchen im Beckett-Strange-Heim für Kinder hatte sie es manchmal des Nachts vernommen, wie es auf dunklen Schwingen durch stille Räume glitt: der ursprüngliche, wortlose Ausdruck völliger Verzweiflung.
Grace seufzte. Sie würde Aryn im Auge behalten, aber sie wußte nicht, was sie sonst noch hätte tun können. In diesem speziellen Fall konnte sie ohne die Hilfe der Patientin keine Diagnose stellen und herausfinden, was nun tatsächlich nicht stimmte.
Der Gartenpfad führte weiter, und ihre Gedanken wandten sich Travis zu. In den vergangenen Tagen hatte sie öfters als gewöhnlich an ihren Freund gedacht. Aus irgendeinem Grund lastete er schwer auf ihren Gedanken, beinahe noch schwerer als Garf. Aber bei diesen Träumen war das vielleicht kein Wunder.
Mittlerweile träumte sie fast jede Nacht den seltsamen Traum, in dem Travis auf dem nebelverhangenen Berg stand. Er spielte sich immer gleich ab. Sie rief vergeblich nach ihm, der rote Stern tauchte auf, der wirbelnde Nebel verwandelte sich in lodernde Flammen.
Inihrem ganzen bisherigen Leben waren ihre Träume verschwommen und absurd gewesen, eine Serie schlecht geschnittener ausländischer Filme betrunkener Regisseure. Dieser Traum war anders. Eindringlich, real. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie den wallenden Nebel sehen, genau wie den lodernden Stern. Aber was hatte das zu bedeuten?
Natürlich nichts. Träume waren lediglich das synaptische Äquivalent der Reste einer Mahlzeit. In ihnen nach einer Bedeutung zu suchen war ungefähr so sinnvoll, wie in einem Teller mit Buchstabensuppe nach einem Haiku Ausschau zu halten. Trotzdem war das Gefühl, daß Travis irgendwie in Schwierigkeiten steckte, nur schwer abzuschütteln. Aber es war sinnlos, sich darüber Sorgen zu machen. Selbst wenn Travis in Gefahr schwebte, er war eine Welt weit weg und damit weit außerhalb ihrer Reichweite und ihrer Hilfe. Davon abgesehen mußte Grace sich um Dinge sorgen, die weit näher lagen.
In den vergangenen Tagen hatte Boreas sie noch zweimal zu sich gerufen, um das Problem Perridon mit ihr zu besprechen – obwohl der König bis jetzt noch keine Entscheidung getroffen zu haben schien, ob ein Eingreifen erforderlich war oder wie es möglicherweise aussehen sollte. Trotzdem war Grace froh gewesen, sich auf ein weltliches Problem konzentrieren zu können, und sie hatte dem König geholfen, so gut sie konnte.
Ihre Studien mit Lirith waren eine andere Sache. Sie hatte damit gerechnet, daß Lirith nach den Geschehnissen ihren Unterricht erst einmal aussetzte. Und in Aryns Fall war das auch so. Für Grace galt das nicht. Am Abend nach Garfs Tod hatte Lirith an ihrer Tür geklopft.
»Arbeit bietet Trost, Schwester«, hatte sie in Antwort auf Graces erstaunten Blick gesagt. »Und Ihr habt noch viel zu lernen.«
Grace hätte fast gelacht. Das ist die
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