Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
Traum.
Sie stand auf dem Gipfel eines Berges oder der Spitze eines Felsens, der von allen Seiten von wirbelnden Nebelschwaden umgeben wurde. Dann teilte sich der Nebel, und auf einem anderen Gipfel stand Travis Wilder, durch ein wogendes Meer aus Grau von ihr getrennt. Beim Anblick des Freundes verspürte sie Freude. Sie hatte geglaubt, er wäre zur Erde zurückgekehrt, aber hier war er,nur ein kurzes Stück von ihr entfernt. Er drehte ihr den Rücken zu, also rief sie, damit er sich umdrehte, aber der Nebel dämpfte ihre Stimme und füllte ihren Hals und ihre Lungen wie mit feuchter Baumwolle.
Über ihren Köpfen blitzte ein Licht auf, und als sie aufsah, erblickte sie den Feuerdrachen, den sie zuvor durch den Nebel hatte rasen sehen. Er verharrte an Ort und Stelle, und es war gar kein Feuerdrache, sondern der neue rote Stern. Sein Licht färbte den Nebel blutrot, und Grace verspürte plötzlich ein starkes Unbehagen, obwohl sie nicht sagen konnte, warum das so war. Sie wußte nur, daß sie mit Travis sprechen mußte. Sie versuchte erneut, ihm etwas zuzurufen, aber er drehte sich nicht um. Dann schoß der rote Nebel wie eine Welle in die Höhe und hüllte ihn ein. Nur daß es kein Nebel mehr war, wie Grace erkannte, als die Ausläufer nach oben züngelten und sich um sie legten.
Es waren Flammen.
24
Grace durchschritt den mit Kletterpflanzen bewachsenen Torbogen und betrat den Schloßgarten.
»Hallo?«
Ihre Stimme hallte zwischen den Bäumen wider; es war niemand in Sicht. Sie ging einen der steinernen Pfade entlang und begab sich tiefer in das Labyrinth aus lebenden Dingen.
Es war fast Hochsommer, und der Garten war eine Nabe aus Smaragdgrün und Gold. Grace atmete die warme Luft ein, die nach Honig schmeckte, und zum ersten Mal seit einer Woche fühlte sie, wie sich ihre Nackenmuskeln entspannten und ihre Schultern sich ein Stück senkten. Der Garten hatte etwas Friedliches und Uraltes an sich. In gewisser Weise erinnerte er Grace an den Dämmerwald und das Kleine Volk. Und tatsächlich ähnelte der Garten dem unmöglichen Wald, in den Travis und sie in dem von Trifkin Moosbere und seinen Schauspielern bewohnten Gemach einen kurzen Blick geworfen hatten.
Vielleicht hatte Lirith recht. Vielleicht war das doch ein guter Ort. Obwohl von der Person, von der Lirith am Morgen gesprochen hatte, nichts zu sehen war.
Da ist jemand, den Ihr meiner Meinung nach kennenlernen solltet, Schwester. Ich glaube, Ihr findet sie im Garten.
Sieben Tage waren vergangen, seitdem sie auf Graces Drängen hin ihren Sommerausflug unternommen hatten. Sieben Tage, seitdem sie Garfs feinen Lebensfaden durch ihre Finger hatte schlüpfen und sich auflösen fühlen können.
Sie hatten in dem ein paar Meilen vom Schloß entfernten Megalithkreis eine kleine Trauerfeier für den jungen Ritter abgehalten. Als Grace das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie sich von Travis verabschiedet, bevor er zur Erde zurückkehrte. Diesmal war es eine andere Art von Abschied gewesen. Sie hatte gewußt, daß Garf Anhänger der Mysterien von Vathris Stiertöter gewesen war und daß Boreas einen geheimeren Ritus abhalten würde, um das Dahinscheiden des Ritters zu würdigen. Also war diese Zeremonie nur für sie und Lirith, Aryn und Durge gewesen. Sie hatten nichts Formelleres getan, als einander bei den Händen zu halten, liebevoll von Garfs Fröhlichkeit und Ehrlichkeit zu sprechen und ein Blumengebinde auf den Boden zu legen. Es war genug gewesen.
Das vielleicht schockierendste am Tod war, daß das Leben trotzdem unbarmherzig weiterging. Jeden Morgen ging die Sonne auf, es herrschte geschäftiges Treiben im Schloß, Grace setzte sich zum Essen und ging wieder zu Bett. Angesichts der größeren Dinge schien das alles so unbedeutend und dumm zu sein, trotzdem war es ein Trost.
Zwar war es eine traurige Erkenntnis, aber Grace wußte, daß für sie der Alltag einkehren würde. Ein totales Wrack zu sein wäre da beinahe schon beruhigender gewesen. Aber sie wußte – wußte es mit der gleichen Sicherheit, die sie verspürte, wenn sie wußte, daß ein Patient in der Notaufnahme überleben würde –, daß das Leben für sie weitergehen würde.
Lirith würde ebenfalls keine Probleme haben, da hatte Grace nicht den geringsten Zweifel. Nicht, daß Garfs Tod die tolorianische Frau nicht berührt hätte. Ganz im Gegenteil, von ihnen allen schien sie diejenige zu sein, die auf fundamentalste Weise begriff, welch ein Verlust sein Dahinscheiden für das Netz
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