Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
nachdachte. Vielleicht hatte er Ivalaine und Tressa belauscht, als sie darüber sprachen, Aryn und sie zusammen mit Melia nach Süden zu schicken. Schließlich hatte Teravian ein Talent dafür, Dinge zu beobachten, ohne selbst dabei gesehen zu werden.
Aber das ergab keinen Sinn. Lirith hatte mit ihm am letzten Abend des Großen Hexenzirkels gesprochen, Stunden bevor Melia von der Ermordung des Gottes erfahren hatte. So schwer das auch zu glauben war, blieb nur eine Antwort übrig.
Teravian hatte die Sicht.
Gut, es war schon vorgekommen, dass Männer über diese Fähigkeit verfügten; Lirith wusste, dass der junge Daynen über Bruchstücke dieser Fähigkeit verfügt hatte, denn er hatte im blind machenden Licht der Sonne den Augenblick seines Todes gesehen, und die Vision hatte sich als wahr erwiesen. Doch diese Fähigkeit kam bei Jungen nur selten vor, und sämtliche Spuren der Sicht verschwanden beim Erreichen der Mannbarkeit. Aber Teravian war über sechzehn Winter alt, körperlich gesehen ein Mann, und wenn man ihm glauben wollte, war das nicht das erste Mal gewesen, dass er Dinge vorhergesehen hatte.
Aber was hatte das für Konsequenzen? Lirith war sich da nicht sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass mehr hinter Königin Ivalaines Bereitschaft steckte, Teravian zu erziehen, als ihrem Verbündeten König Boreas von Calavan einen Gefallen zu tun.
Obwohl sie vom Schauplatz eines Mordes zum nächsten reisten, hatte Lirith irgendwie das Gefühl, dass sich ihre Laune verbesserte, als sie Ar-Tolor verließen und über die Straße nach Tarras ritten. Der goldene Sommernachmittag war dem kupfernen Herbstabend gewichen, und obwohl die Tage noch warm waren, gelang es ihnen bis zur purpurnen Abenddämmerung nicht, die scharfe Kühle der Morgendämmerung gänzlich zu überwinden.
Auf dem Ritt nach Süden durch Toloria sprachen sie nur wenig, und auch wenn die Stille von Melias Trauer über ihren Verlust gefärbt wurde, war sie auf ihre Weise auch friedvoll. Der Ritt ging durch ein dicht bevölkertes Land. Doch durch eine unausgesprochene Übereinkunft mieden sie Herrenhäuser und Gasthäuser und kampierten jeden Abend unter Bäumen und ein paarmal auch in einem Talathrin, einem der alten tarrasischen Wegkreise. Das Wetter war zu mild, zu schön, um es unter einem Dach zu verschwenden.
Meistens erwachte Lirith vor Sonnenaufgang neben Aryn, auf dem Boden in warme Decken gehüllt, und hörte Melias leise Gebete und das Geschepper von Falken, der das Frühstück zubereitete. Kurz danach ertönte dann ein leises Klirren, und Durge in seinem Kettenhemd kniete neben ihnen nieder, um sie zu wecken. Der köstliche Duft des Maddoks lockte Lirith aus der provisorischen Bettstatt, und sie setzte sich ans Feuer und legte die Hände um eine heiße Tontasse, während Falken in der Pfanne geröstetes Brot anbot. Kurz darauf brachen sie das Lager ab, stiegen auf die Pferde und ritten weiter durch die glänzende Landschaft.
Es war seltsam, aber Lirith konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben glücklicher gewesen zu sein.
Nach acht ereignislosen Tagen erreichten sie die Freie Stadt Gendarra. Es war eine große, schmutzige, laute und aufregende Hafenstadt am Meer der Morgenröte, wo die Flüsse Kelduorn und Dimduorn zusammentrafen und dann gemeinsam in den großen östlichen Ozean flossen.
Lirith dankte dem Schicksal, dass es sie nicht in die Freie Stadt Corantha geführt hatte. Sie hatte diese Stadt seit dem Tag, an dem sie nach Norden nach Toloria geflohen war, um dort ein neues Leben zu beginnen, nicht mehr besucht. Und trotz der vielen Veränderungen, die sie seitdem durchgemacht hatte, war sie sich nicht sicher, ob sie jemals die Kraft haben würde, noch einmal einen Fuß in diese Mauern zu setzen. Glücklicherweise war das Meer vor Corantha zu dieser Jahreszeit ziemlich stürmisch, darum waren sie stattdessen nach Gendarra gereist.
Die Freien Städte waren ein Bündnis lose miteinander verbundener Stadtstaaten, die zwei Jahrhunderte zuvor die sie beherrschenden Lords zu Gunsten einer Regierung gestürzt hatten, die hauptsächlich von Kaufleuten kontrolliert wurde. Statt von einem Grafen oder Herzog wurde jede Stadt von einem Bürgermeister regiert, der von den Repräsentanten der verschiedenen Kaufmannsgilden gewählt wurde. Darum blühten und gediehen die Freien Städte – auch wenn sie nicht die Stabilität der von den Schlössern kontrollierten Domänen hatten. Obwohl Lirith neun Jahre ihres Lebens in einer
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