Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
Geheimnissen, die alle nur zusahen und warteten. Es war wie die Karte, die er aus dem Spiel der Greisin gezogen hatte: die Frau, die aus dem Mond herunterblickte; sie war wunderschön, aber sie beobachtete nur.
Er hatte Recht behalten, was die Mournisch anging, es waren wirklich seltsame Leute. Ihnen einen Besuch abzustatten war unklug gewesen, denn die Worte der Alten hatten anscheinend sowohl Aryn wie auch Lirith aufgebracht.
Und was ist mit den Worten, die sie für dich übrig hatte, Durge von Steinspalter?
Aber das war nur ein Trick gewesen, nichts weiter. In den vergangenen Monaten hatte Durge einige Wunder gesehen, ja, aber dafür waren Götter verantwortlich gewesen, keine Menschen. Er glaubte nicht an die Magie von Menschen.
Und doch wird Magie dir den Tod bringen …
Ein eiskalter Windzug hüllte Durge ein, und er erschauderte, als sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Hatte sich das Fenster hinter ihm geöffnet? Falls dem so war, dann kam dieser Wind aus den Tiefen des Winters, nicht von den sanften Tagen des Spätsommers. Er drehte sich um, um das Fenster zu schließen, und sah zum zweiten Mal an diesem Morgen einen Geist.
Er war ein Mann der Logik, trotzdem wusste er sofort, dass diese Schatten mehr als ein Spiegeltrick aus Licht und Dunkelheit waren. Sie standen vor dem Fenster – das noch immer fest verschlossen war –, so farblos und durchsichtig wie der Nebel draußen. Sie war ein Mädchen von zwanzig Jahren, hübsch, aber alles andere als perfekt, mit einem zu großen Kinn und großen Augen, und ihr Haar bestand nur aus Schatten. Vor ihr stand ein winziges Kind, dessen Mund eine hübsche Rosenknospe war. Sein Haar war so hell, wie das der Frau dunkel war.
Durges Herz setzte einen Schlag lang aus. An ihnen war eine totenähnliche Reglosigkeit. Die beiden schienen weder traurig noch glücklich zu sein. Sie starrten einfach geradeaus, ihre Züge drückten keinerlei Gefühle aus. Nahmen sie ihn überhaupt wahr? Dann erwiderte die Frau seinen Blick, und in ihren Augen zeichnete sich ein schwaches Wiedererkennen ab. Sie öffnete den Mund, aber es ertönte kein Laut.
Durge stolperte zurück. Er hatte das Gefühl, als hätte ein kaltes Messer ihm das Blut aus den Adern gelassen.
»Geht weg«, krächzte er. »Ich bin jetzt ein alter Mann. Werdet Ihr mich denn niemals freigeben?«
Tränen strömten seine Wangen hinunter, dampften in der eiskalten Luft. Jetzt schien die Miene der Frau voller Trauer zu sein. Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber in diesem Augenblick brach draußen die aufgehende Sonne durch den Nebel. Ihr Licht durchbohrte die Geister, und im nächsten Augenblick waren sie verschwunden.
6
Lirith erwachte plötzlich.
Sie setzte sich im Bett auf, ihr Nachthemd war feucht und klebrig vom Schweiß. Etwas hatte sie geweckt – aber was? Durch das schmale Fenster drang nur farbloses Licht herein, das ganz normale Gegenstände zeigte: einen Stuhl, einen Tisch, einen Kleiderschrank. Schnell schloss sie die Augen und schaute mit einer anderen Art von Sicht.
Unvermittelt sah sie das schimmernde Netz der Magie, das alle Dinge einhüllte und durchdrang, und wo alles zuvor nur grau gewesen war, leuchteten nun alle möglichen Farben. Die Wärme der Weltenkraft durchflutete sie, gab ihr Zuversicht. Alles war so, wie es sein sollte.
Vielleicht hatte sie auch nur ihr Traum so aufgeregt. Sie wusste nicht, warum sie ihn gehabt hatte. Es war so lange her, dass sie an diesen Ort gedacht hatte, an diese Zeit. Und doch hatte sie das Gefühl, als wäre sie noch immer da und könnte den Duft von Räucherwerk riechen und das Klirren der Perlen und das raue Gelächter in der heißen, von Schwaden durchzogenen Luft hören.
Tanze, meine schwarze Perle. Tanze, wenn du jemals wieder hoffen willst, frei zu sein. Was für ein hübsches Ding du doch bist, so hübsch wie die Nacht. Ja, jetzt hast du es verstanden – es ist die einzige Möglichkeit …
Lirith fröstelte – obwohl sich die tröstenden Ranken der Weltenkraft um sie schlangen. Was hatte sie an Dinge denken lassen, die sich vor so langer Zeit ereignet hatten? Aber vielleicht war das ja gar kein Geheimnis.
Du fliehst vor deinem Schicksal. Und doch kannst du ihm nicht entkommen, denn es liegt in dir verborgen.
Lirith sah noch immer die Zeichnung des öden Schlachtfeldes auf der Spielkarte vor sich, und den schwarzen Umriss des Raben. Aber die Alte irrte sich. Lirith war ihrem Schicksal entflohen. Sie war an dem Tag vor sieben Jahren
Weitere Kostenlose Bücher