Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
frischen Binsen gefärbt. Und das dritte war so dunkel wie Rauch und wurde mit Asche eingefärbt. Wofür wurden die Festgewänder gebraucht?
Tressa lächelte, als Aryn sie danach fragte. »Nun, sie hat drei Gesichter, also trägt sie drei Gewänder; eines zum Aufwachen, eines für die Pracht ihrer Fülle und eines für ihr Dahinscheiden.«
»Aber wer ist sie?«, fragte Aryn verblüffter als je zuvor.
Tressas Lächeln wurde nur noch breiter.
»Also gut, Lirith«, sagte Aryn an diesem Abend beim Essen im Großen Saal, senkte aber ihren Tonfall, da die Königin nur wenige Plätze von ihr entfernt saß. »Worum geht es bei diesem Großen Hexenzirkel nun genau?«
»Das werdet Ihr sehen«, erwiderte Lirith und trank einen Schluck Wein.
Aryn fing an zu stöhnen – diese Antwort war typisch rätselhaft –, aber dann kniff sie die Augen zusammen. »Ihr wisst es auch nicht, habe ich Recht?«
Lirith wich ihrem Blick aus. »Ich habe da eine gewisse Vorstellung.«
Aryn war sich nicht sicher, was es war: Glück, Instinkt oder eine unausgesprochene Botschaft, die mittels der Fäden der Weltenkraft transportiert wurde. Trotzdem wusste sie, an welches Wort Lirith dachte.
»Runenbrecher«, flüsterte sie.
Jetzt sah Lirith sie an; ihre Augen funkelten, ihr Gesicht war hart. »Ihr werdet dieses Wort nie wieder aussprechen, Schwester. Nicht bevor es jemand vor Euch zuerst ausspricht. Habt Ihr mich verstanden?«
Aryn hatte Lirith noch nie zuvor so grob sprechen hören. Sie nickte ruckartig, dann beendete sie ihr Essen schweigend.
Als der Mond zu einem Splitter abnahm, trafen weitere Hexen auf Ar-Tolor ein. Einige kamen ganz offen im hellen Licht des Mittags, während andere im purpurnen Zwielicht erschienen. Und manchmal wachte Aryn mitten in der Nacht auf, begab sich ans Fenster und sah schwer auszumachende Schatten über den Hof huschen, die in wortlosen Gesprächen die Köpfe zusammensteckten. Bald schon schienen die Steine der Burg das Geflüster wiederzugeben, und die Diener und Wächter gingen mit der Nervosität von Mäusen, die wussten, dass die Katze unterwegs war, und blickten ständig über die Schulter.
Schließlich zählte Aryn die Tage; sie glaubte vor Fragen platzen zu müssen, falls der Große Hexenzirkel nicht bald begann. Wenigstens brachte die Zeit, die sie mit Melia und Falken verbrachte, etwas Erleichterung. Sie erzählten ihr Geschichten vom großen untergegangenen Königreich von Malachor und von der Stadt Tarras, als sie noch das strahlende Herz eines großen Reiches war. Doch obwohl interessant, waren die Geschichten nur Ablenkungen. Nicht die Vergangenheit interessierte Aryn, sondern die unmittelbare Zukunft.
Als sie an dem Morgen des Tages, an dem der Große Hexenzirkel beginnen sollte, erwachte, erfuhr sie, dass die Mournisch Ar-Tolor verlassen hatten. Irgendwann in der Nacht hatten sie ihre fantastischen Wagen beladen und waren zu ihrem nächsten Ziel aufgebrochen.
Nach dem Frühstück, das Aryn vor Aufregung kaum runterbekam, ging sie mit Lirith zur Wiese unterhalb des Schlosses. Sie spazierten unter den hohen Bäumen, die hin und her wogten und ein müdes Lied murmelten. Der Sommer verging. Keldath, der goldene Monat, war vorbei. Der Revendath war angebrochen, und auf den Feldern fiel der Weizen unter den Sicheln.
Die gelben Stellen im Gras, wo die Wagen der Mournisch gestanden hatten, waren leicht auszumachen. An einer blieb Lirith stehen, kniete nieder und pflückte etwas aus dem verdorrten Gras. Es funkelte im gesprenkelten Licht; es war eines der billigen Bronzeamulette, die die Mournisch verkauften, um Krankheiten abzuwehren, Schmerzen zu lindern oder Liebe zu bringen. Dieses Amulett war wie eine Spinne geformt. Aryn fragte sich, welchen Zweck es wohl hatte.
»Ich wünschte, wir hätten sie noch einmal besuchen können. Die Mournisch, meine ich.«
»Es ist gut, dass wir es nicht konnten«, sagte Lirith tonlos.
Aryn sah ihre Freundin überrascht an. Lirith schien an einen weit entfernten Ort zu blicken.
»Was ist, Schwester?«, fragte Aryn und berührte ihre Hand.
Lirith holte tief Luft, dann lächelte sie. »Es ist nichts, wirklich.«
Aryn nickte; sie glaubte den Grund zu kennen. Die Worte der Alten hatten sie alle berührt. Wieder musste sie an das Bild denken, das sie in Ivalaines Becken und dann wieder auf der Karte gesehen hatte. Was hatte es nur zu bedeuten? Von allen Schlössern, die Aryn kannte, hatte nur Ar-Tolor sieben Türme. Und hier war Ivalaine die Herrin.
»Wir
Weitere Kostenlose Bücher