Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
Aryn als junges Mädchen so oft gespielt hatte, dass sie sich mit geschlossenen Augen in ihm zurechtfand. Hier verliefen die Wege oft im Kreis, führten an jeder Abzweigung zu unerwarteten grünen Grotten, im Schatten liegenden Springbrunnen, deren Wasser sich über moosige Steine ergoss, und dichten Büschen, aus denen Götter mit ernst blickenden Marmoraugen aus grünen Schreinen schauten.
Sie passierten einen Torbogen aus moosbewachsenen Steinen, der Aryn bei all ihren Spaziergängen noch nie zuvor aufgefallen war, und betraten den dahinter liegenden großen Ort.
Es war wie ein Tempel, der nur aus Grün bestand. Uralte Bäume bildeten zwei Alleen, ihre wie Säulen angeordneten Stämme verjüngten sich in der Höhe. Zwischen den Ästen schlängelten sich Schlingpflanzen und komplettierten die Wände und das Kuppeldach. Silbernes, mit einem smaragdgrünen Stich durchsetztes Mondlicht bahnte sich von oben einen Weg in die Tiefe; herabgefallene Blüten leuchteten am Boden. Blätter raschelten im Nachtwind wie das Geflüster vieler Stimmen. Dann erzitterte Aryn, und sie wusste, dass hier nicht nur die Blätter flüsterten.
Der Garten war voller Hexen.
Sie alle trugen das gleiche grüne Kleid, und im Dämmerlicht verschmolzen die Gewänder mit den Schatten, sodass man unmöglich sagen konnte, wie viele es waren. Aber Aryn war fest davon überzeugt, dass es mindestens zweihundert sein mussten, wenn nicht noch mehr. Aufregung stieg in ihr hoch.
O Grace. Ich wünschte, du wärst hier und könntest das erleben. Es ist so wunderbar. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es von uns so viele gibt. Du würdest sehen, dass du nicht allein bist, dass du niemals allein sein wirst.
Am anderen Ende des Hains führten Marmorstufen zu einer runden Tribüne. Dort standen sieben Sockel, und auf jedem leuchtete eine Lichtkugel. Im ersten Augenblick fragte sich Aryn, ob es sich um mit Glühwürmchen gefüllte Glaskugeln handelte, aber das war absurd. Wie hätte man sie am Leben halten sollen? Außerdem war das Jahr dafür zu weit fortgeschritten, und das Licht aus den Kugeln war nicht gelblich, sondern grünlich wie das von den Blättern gefilterte Mondlicht.
»Was kann das nur sein?«, murmelte Aryn.
Sie spürte einen Blick auf sich ruhen und schaute in Liriths mitternachtsdunkle Augen.
Man nennt es Hexenfeuer, Schwester. Hell anzuschauen, aber kühl bei der Berührung.
Hexenfeuer? Lirith hatte noch nie ein Wort darüber verloren. Aber es gab so viele Dinge, die Aryn noch zu lernen hatte. Sie wollte etwas sagen, aber da ergriff die Hexe, die ihre Gruppe geführt hatte, das Wort.
»Hier entlang.«
Nayla führte Aryn und ihre Begleiterinnen in die Mitte des Hains, während Lirith ihre Gruppe zur Seite steuerte. Sie gingen an kleinen Gruppen von Frauen vorbei, und als sie stehen blieben, erkannte Aryn, dass die Positionen der grün gekleideten Hexen einer Ordnung unterlagen. Die jüngsten waren, wenn man von der Tribüne ausging, auf der rechten Seite versammelt. Aryns Gruppe stand auf der linken Seite, während in der Hainmitte Hexen versammelt standen, die eher Liriths und Graces Alter hatten. Jenseits davon waren ältere Hexen zu sehen, von denen zwar noch viele wunderschön waren, deren Haar aber grau und deren Gesichter von Falten der Weisheit gezeichnet waren. Und beinahe unsichtbar in den Schatten hinten links versammelten sich die alten Hexen, die Greisinnen und Vetteln, deren Rücken gekrümmt, deren Glieder knorrig und deren Münder zahnlos waren.
Als Aryn hinter sich sah, erregte ein weißes Aufblitzen ihre Aufmerksamkeit. Sie schaute in die Richtung, dann keuchte sie auf. Einen Augenblick lang glaubte sie, dass die junge Hexe in die schneeweißen Blüten gekleidet war, die noch immer von oben herabfielen, denn in dem grünen Zwielicht schien sie förmlich zu leuchten. Dann blinzelte Aryn und begriff: Es handelte sich um ein weißes Kleid – das Festgewand, bei dessen Herstellung sie und Lirith vor wenigen Tagen geholfen hatten.
»Ist sie nicht wunderschön?«, flüsterte eine der Hexen aus Aryns Gruppe – es war diejenige, die zuvor ihren Arm angestarrt hatte – ihr ins Ohr.
Aryn nickte. Als Mädchen hatte sie in den Spiegel geschaut und versucht, sich vorzustellen, wie sie wohl als Erwachsene aussehen würde: dunkel, schlank, strahlend und gesund. Doch als sie älter wurde, hatte sie dieses Spiegelbild niemals zurückschauen sehen. Bis jetzt.
Die junge Hexe in Weiß hätte Aryns Schwester sein können. Ihr Haar
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