Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
sollten ins Schloss zurückgehen«, sagte Lirith. »Heute Abend werden wir an andere Dinge zu denken haben als an die Mournisch.«
Aryn nickte, und sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Aber ihr entging nicht, dass Lirith den Spinnenanhänger sorgfältig aufwickelte und in eine Tasche ihres Gewandes steckte.
8
Der Rest des Tages schien eine Ewigkeit zu dauern. Aryn versuchte sich mit ihrer Stickerei zu beschäftigen, aber der Faden schien entschlossen zu sein, sich zu verheddern und zu verknoten. Lirith hatte sie darüber informiert, dass die erste Zusammenkunft des Zirkels eine Willkommensbeschwörung sein würde, bei der alle Hexen einander begrüßen konnten. Die wirkliche Arbeit des Zirkels würde in den folgenden Tagen losgehen. Aryn war sich nicht ganz sicher, wann es endlich richtig losging, aber der Instinkt sagte ihr, dass es bestimmt nicht vor dem Abend sein würde, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwand und andere Mächte die Welt in Besitz nahmen.
Als das Lied der Tauben durch das Fenster hereintönte, klopfte es leise an ihrer Tür. Draußen stand eine Frau, die Aryn noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war außerordentlich hoch gewachsen, dünn und ließ sämtliche Kurven vermissen; ihr braunes Haar war nach Männerart geschnitten und lag eng an ihrem Kopf an. Die Frau trug ein einfaches, hellgrünes Kleid und hatte ein ähnliches Gewand über den Arm gelegt.
»Es ist Zeit«, sagte die Frau, bevor Aryn überhaupt etwas sagen konnte. Sie hielt ihr das Kleid hin. »Ich bin Nayla, Eure Führerin. Zieht dies an und folgt mir dann.«
Minuten später schritt Aryn zusammen mit mehreren anderen jungen Frauen durch die dunklen Korridore Ar-Tolors hinter Nayla her. Sie hatten gemeinsam ein Gemach nach dem anderen besucht, gewartet, bis jede Frau das grüne Kleid angezogen hatte, das die Hexe irgendwie stets aufs Neue griffbereit gehabt hatte, und waren dann schweigend weitergezogen.
Aryn warf den jungen Frauen an ihren Seiten kurze Blicke zu. Die meisten waren blass und hübsch, nur eine war so dunkel und erhaben wie Lirith. In den einfachen grünen Kleidern sahen sie alle hübsch aus; die kurzen Ärmel ließen ihre wohlgeformten Arme nackt. Aryn bemühte sich, ihren verkümmerten rechten Arm zu ignorieren, der aus seinem Ärmel baumelte. Selbst als kleines Mädchen war sie sich immer der Notwendigkeit bewusst gewesen, ihren Arm vor Blicken zu verbergen. Jetzt, wo er von allen gesehen werden konnte, kam sie sich auf eine seltsame Weise nackt vor.
Etwas kribbelte in ihrem Nacken. Sie sah nach hinten und entdeckte, dass eine der jungen Frauen sie anstarrte. Nein, nicht sie. Ihren Arm. Die Frau schaute schnell zur Seite, aber es war zu spät; Aryn hatte das Entsetzen in ihrer Miene gesehen. Danach hielt Aryn den Blick stur geradeaus gerichtet.
Sie kamen an eine Kreuzung und stießen auf eine weitere Gruppe junger Frauen in grünen Kleidern. Alle hatten sie einen staunenden Ausdruck im Gesicht. Sie waren noch jünger als die Frauen in Aryns Gruppe, die älteste konnte nicht mehr als fünfzehn Jahre alt sein, und die jüngste hatte garantiert noch nicht ihren zwölften Winter erreicht. Konnte sie mit so jungen Jahren eine echte Hexe sein?
Als hätte das Mädchen ihren Blick gespürt, schaute es mit einem wissenden Ausdruck im Gesicht auf, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. Aryn schaute schnell weg.
Erst als Nayla der Frau zunickte, die die andere Gruppe anführte, wurde Aryn bewusst, dass es sich um Lirith handelte. Die Hexe mit den dunklen Augen sah in ihrem grünen Kleid sehr elegant aus, ihr schwarzes Haar strömte ihr in dichten Locken auf den Rücken. Aryn öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein kaum merkliches Kopfschütteln Liriths ließ sie es sich anders überlegen.
Noch nicht, Schwester, glaubte Aryn eine Stimme in ihrem Bewusstsein flüstern zu hören. Folgt uns jetzt, fragt später.
Lirith erwiderte das Nicken der hoch gewachsenen Hexe, dann gingen die beiden in einen Korridor hinein. Die anderen schlossen sich ihnen in einer Reihe an.
Erst als sie durch eine Tür in kühle, purpurfarbene Luft schritten und Aryn den Duft der Abendblumen einatmete, wurde ihr klar, was ihr Ziel sein würde. Sie ließen die steinernen Mauern des Schlosses hinter sich und begaben sich über die gewundenen Pfade tiefer in die Gärten Ar-Tolors hinein.
Diese Gärten waren größer und wilder als der von Calavere mit seinen angelegten Wegen und dem gepflegten Heckenlabyrinth, in dem
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