Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
Grün gekleidete Gestalt baumelte von einer der hohen Galerien des Saales. Die Glöckchen bimmelten misstönend, während sie hin- und herschwankte.
Lirith ging zu der Dienerin, um sie zu trösten. Aryn drückte die Hand vor den Mund, um nicht auch so zu schreien wie Elthre. Ein Stück Stoff war um Meister Tharkis’ Hals geschlungen – es handelte sich um eines der Dutzend grüngelben Banner von Toloria, die von den Galerien herunterhingen –, und daran war er aufgehängt worden. Seine knochigen Gliedmaßen waren seltsam verdreht, und seine Zähne waren zu einem scheinbar irren Grinsen gefletscht, als wäre er mitten bei einem letzten Scherz erstarrt. Doch diese Illusion wurde von den scharlachroten Strömen zunichte gemacht, die noch immer aus den leeren Höhlen flossen, wo zuvor die schielenden Augen gewesen waren.
»Der arme Tharkis«, sagte Melia. »Dieses Ende hat er nicht verdient. Aber wie ist das möglich?«
»Die Beweise sind eindeutig«, grollte Durge. »Der Narr konnte seinen Wahnsinn nicht länger ertragen. Er hat sich die Augen aus dem Kopf gequetscht und sich dann an der Galerie erhängt.«
Aryn erschauderte. Ihr fiel wieder ein, was Tharkis noch vor wenigen Minuten zu ihr gesagt hatte, das über die Augen, die alles sahen.
Auch ich habe Dinge gesehen …
Tharkis war so ängstlich erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie es nicht begriffen. Vielleicht ergab es ja jetzt einen Sinn. Sie wollte den anderen von ihrer Begegnung erzählen, aber Falken kam ihr zuvor.
»Seid Ihr sicher, Durge, dass es so war?«
Der Ritter runzelte die Stirn. »Was meint Ihr?«
Falken zeigte mit der schwarz behandschuhten Hand.
»Wenn Tharkis sich die Augen ausgequetscht hat, warum ist dann kein Blut an seinen Händen?«
17
Der Mond schwebte durch ein Meer silberner Wolken. Tiefe grüne Schatten erfüllten den Garten, ein kühler Wind wehte durch die Äste; er war wie eine Stimme, die von vergessenen Geheimnissen flüsterte. Mitternacht war lange vorbei.
Der Wind erstarb, eine Zeit lang herrschte Stille im Garten. Dann teilten sich die Schatten, und eine Gestalt trat hervor. Bleiches Mondlicht verwandelte ihr rotgoldenes Haar in Stahl, als sie sich suchend umsah. Sie zog den dicken Umhang enger. Obwohl die Tage noch warm waren, wurden die Nächte bereits kühler. Allerdings war ihr klar, dass nicht nur die Nacht sie frösteln ließ, sondern auch die Person, die sie suchte.
»Zeigt Euch, verdammt«, murmelte sie. »Müsst Ihr selbst jetzt noch diese Spielchen spielen?«
Ein Flecken Dunkelheit löste sich von einem Baum und kam näher. Die Frau schlug eine Hand vor die Brust, sie konnte gerade noch ein erschrockenes Keuchen unterdrücken.
»Was ist los, Schwester?«, sagte eine bebende Stimme. »Habe ich Euch erschreckt?«
Wut verdrängte die Angst, als die Frau wieder zu Atem kam. »Natürlich habt Ihr mich erschreckt, Shemal, wie es ja wohl auch sicher Eure Absicht war.«
Der Schatten kam näher heran und wurde zu einer schlanken, femininen Gestalt. Gelegentlich blitzte eisweiße Haut im Mondlicht auf, aber größtenteils hüllte die Nacht sie ein. Ein Stück Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Warum seid Ihr so schlecht gelaunt, meine Gute? Ist nicht alles genauso abgelaufen, wie ich es gesagt habe?«
Die Frau hielt ihren Umhang fester. »Ich verstehe noch immer nicht, warum sie die Mutter bleiben sollte.«
»Ts, ts«, schalt die andere. »Nicht zu schnell zu gierig sein, Schwester. Eine größere Veränderung braucht mehr Zeit. Was ist nun mit den anderen – dieser taumelnden Leiche von einem Barden und der Hure aus dem Süden mit den Bernsteinaugen?«
Die Frau lächelte trotz ihrer Wut. »Sie verlassen Ar-Tolor. So wie ich es verstanden habe, hat sie schlechte Neuigkeiten aus Tarras bekommen. Sie reist morgen ab, und er wird sie begleiten.«
»Ausgezeichnet«, sagte der Schatten. »Ich hasse es, wenn sie in der Nähe ist, denn ich muss mich vorsehen, dass sie meine Anwesenheit nicht spürt. So beschränkt ihre Fähigkeiten auch sind, sollte man sie jedoch nicht unterschätzen. Es ist gut, dass sie geht. Aber sie müssen beobachtet werden.«
»Wie?«
»Sind nicht zwei Eurer Schwestern ihre Freundinnen?«
Die Frau mit den blonden Haaren verzog die Lippen. »Ja, aber man kann ihnen nicht vertrauen. Sie gehören zu jenen, die sich als Letzte mit dem Muster vereinigten.«
»Und doch haben sie es getan«, fauchte die andere, »und sie sind wie Ihr an das Muster gebunden. Sie müssen gehen, denn
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