Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
lachte; es klang wie zersplitterndes Glas. »Auch ich habe Dinge gesehen.«
Aryn zögerte, dann streckte sie die linke Hand aus. »Schon gut, Meister Tharkis. Es ist nur …«
Sie verstummte, als sie seinen wilden Blick sah. »Sie wird auch für Euch kommen. Ihr könnt ihr nicht entkommen. Sie webt ein Netz für die Weber … und darin wird sie alle fangen.«
Aryn verspürte einen Schauder. »Von wem sprecht Ihr da? Wen will sie einfangen?«
»Sie wird … sie sieht, aber sie ist nicht lebendig. Haltet nach ihr Ausschau, Weberin. Selbst in diesem Augenblick schließt ihr Netz sich um uns. Und sie wird alle auffressen, die darin gefangen sind.« Er legte die zitternden Hände an den Kopf und drückte fest zu. »Sie glaubt, ich kann mich nicht erinnern. Aber manchmal, da schaffe ich es beinahe … Ich … es ist in den Bäumen. Ich muss reiten. Nicht schnell genug … es kommt. Gehorcht mir, denn ich bin der König. Oh, bei allen Göttern, es kommt …«
Tharkis zitterte am ganzen Leib, Rotz lief ihm aus der Nase. In seinen Augen lag ein Ausdruck voller tief empfundenem, namenlosem Entsetzen. Aber seine Worte klangen seltsam vernünftig. Aryn öffnete den Mund, war sich aber nicht sicher, was sie sagen sollte.
»Aryn? Aryn, bist du das?«
Tharkis sprang auf die Füße wie eine Marionette, deren Faden man emporriss. Er schielte wieder. »Fürchtet die, die lebt und doch tot ist«, zischte er, »Ihr könnt ihrem Netz nicht entkommen, auch nicht mit List.«
Mit einer verrückten Schnelligkeit kletterte der Narr die Wand hoch und verschwand in den Schatten der Deckenbalken. Aryn verdrehte den Kopf und suchte die Ecke ab, aber sie wusste, dass es sinnlos war; sie würde ihn nicht finden.
»Aryn, da bist du ja! Ich glaubte, ich würde deinen Lebensfaden spüren.«
Eine Silhouette kam auf die Baronesse zu: Lirith. Ihr ebenholzfarbenes Gesicht war blasser als gewöhnlich, als wäre es mit Asche bedeckt.
»Hast du meinen Ruf gehört, Schwester?«
»Ja.«
»Ich hatte auch den Eindruck, war mir aber nicht sicher. Du musst sofort mitkommen.«
»Was ist geschehen?«
»Ich glaube nicht, dass ich das erklären kann.« Lirith nahm Aryn bei der Hand. »Komm mit, du wirst schon sehen.«
Als Lirith sie in den Korridor zog, verschwand jeder Gedanke an Tharkis aus Aryns Verstand. Sie kamen zu der Tür von Melias und Falkens Gemach und schlüpften hinein. Aryn vermochte nicht zu sagen, was sie erwartet hatte, aber das mit Sicherheit nicht.
Durge drückte sich mit aufgerissenen Augen an die gegenüberliegende Wand, als wollte er in den massiven Stein hineinkriechen. Falken kniete nicht weit von der Tür entfernt und schaute nach oben; seine Miene drückte Trauer aus. Melia befand sich in der Mitte des Raumes und weinte. Sie schluchzte lautstark, ihre Klage hob und senkte sich im Rhythmus eines Gesangs. Sie riss sich an den blauschwarzen Haaren, Tränen strömten aus den bernsteinfarbenen Augen. Doch es war nicht dieser Anblick, der Aryn den Atem stocken ließ. Sondern die Tatsache, dass Melia mitten in der Luft schwebte.
Die kleingewachsene Frau schwebte in der Mitte des Raumes, mehrere Meter über dem Boden, und hatte sich zusammengerollt. Sie drehte sich langsam, während sie weinte, hüpfte auf und ab wie Treibgut auf einer sturmgepeitschten See. In ihrer Trauer schien sie die anderen gar nicht wahrzunehmen.
Endlich bekam Aryn wieder Luft. Sie musste gestolpert sein, denn Lirith ergriff sie am Arm, und dann war Falken an ihrer anderen Seite und stützte sie. Durge schob sich an den Wänden vorbei, um zu ihnen zu stoßen.
»Sie trauert«, sagte Falken mit leiser Stimme, um Aryns unausgesprochene Frage zu beantworten. »Ich kann nicht sagen, wie lange das dauern wird.«
Aryn schüttelte den Kopf. »Trauern? Um wen?«
»Um einen ihrer Brüder.«
Furcht durchfuhr Aryn, sie umklammerte den Arm des Barden. »Ist es Tome?«
Obwohl sie dem sanften alten Mann mit den goldenen Augen nur einmal begegnet war, war das lange genug gewesen, um ihn in ihr Herz zu schließen. Genau wie Melia war auch Tome einer der Neun, die vor langer Zeit der Göttlichkeit entsagt hatten, um auf Eldh zu wandeln und die Nekromanten des Fahlen Königs zu bekämpfen. Seitdem waren die meisten der Neun müde geworden und aus der Welt verschwunden.
»Nein, es ist nicht Tome«, sagte Falken. »Sie weint um einen der Götter von Tarras.«
Aryn bemühte sich, das zu verstehen. »Aber Mandu ist der Sterbende. Wird er nicht einfach wieder
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