Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
die aber kein elektronischer Monitor feststellen konnte.
Grace ergriff das Metallgeländer des Bettes. Es war über zwei Monate her, und sie wusste, was mit langfristigen Komafällen passierte. Trotzdem schnappte sie unwillkürlich nach Luft.
»Ach, Beltan …«
In ihrer Erinnerung sah sie ihn groß und stark vor sich, bekleidet mit einem Kettenhemd, das Schwert in der Hand, ein grimmiges Grinsen auf dem Gesicht. Der Mann auf dem Bett hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem, den sie einmal gekannt hatte.
Er sah alt aus. Die Gliedmaßen, die unter dem Krankenhausnachthemd hervorragten, waren weiß und dünn, als wären seine scharfkantigen Knochen unmöglich in die Länge gezogen worden. Unter dem Hemd waren seine Muskeln verkümmert, und die Hände, die an seinen Seiten lagen, sahen aus wie Bündel kleiner Stöckchen.
Ihre Blicke glitten vorbei an den Infusionsschläuchen und Monitorkabeln – wenigstens war er nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen – zu seinem Gesicht. Sie hatten seinen ungepflegten Bart wachsen lassen. Er kam ihr stumpf vor, eher bräunlich als golden, und es dauerte einen Augenblick, bis sie das stattliche, fröhliche Gesicht fand, von dem sie wusste, dass es sich darunter befand. Sie hätte alles gegeben, um sein strahlendes Lächeln zu sehen, aber vom gleichmäßigen Heben und Senken seiner Brust abgesehen bewegte er sich nicht.
Grace zog das Nachthemd zur Seite und ließ die Finger über das dichte rosa Narbengewebe auf Beltans linker Seite gleiten. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Es war schwach und trüb – wie ein verschwommenes Röntgenbild ohne Hintergrundbeleuchtung statt eines dreidimensionalen, computerkolorierten Scans –, aber Königin Ivalaine hatte Recht gehabt. Selbst hier auf der Erde hatte Grace die Begabung.
Seine alte Verletzung war gut verheilt – viel besser, als es auf Eldh je der Fall gewesen war. Abdominalchirurgie und Antibiotika grenzten noch immer an Magie. Doch sein Blutverlust war katastrophal gewesen, und er hatte das Koma ausgelöst. Die Ärzte konnten seinen Körper wiederherstellen und die Adern neu mit Blut füllen, doch noch so viel Chirurgie war nicht im Stande, ihn zu wecken.
Vielleicht braucht er doch etwas Magie, Grace.
Sie wechselte das Nachthemd und legte dann eine Hand auf die hohe Fläche seiner Stirn. Es befanden sich mehr Furchen darauf, als sie in Erinnerung hatte. Aus irgendeinem Grund verspürte sie den Wunsch, ihm etwas vorzusingen, was ganz und gar unärztlich war. Andererseits … legten manche Forschungsergebnisse nicht nahe, dass vertraute Stimmen dazu beitragen konnten, Komapatienten aus der Bewusstlosigkeit zu erwecken? Worte kamen auf ihre Lippen, so alt, dass sie sie fast vergessen hatte.
»Der Abschiedsworte dunkler Sang
Erfüllt das Herz mit dunklem Klang. Wie ein Vorhang fällt der Regen
Beginnt sich übers Land zu legen.«
Sie berührte den eckigen Metallanhänger unter ihrer Bluse. Das Lied stammte aus ihrer Kindheit, wie auch die Halskette. Aber woher kamen sie? Im Waisenhaus hatte ihr bestimmt niemand vorgesungen. Und sie hegte nicht den geringsten Zweifel, dass der Text nicht stimmte. Sie musste das Lied als kleines Mädchen gehört und, wie Kinder es so oft taten, fremde Klänge in vertraute Worte verwandelt haben. Gleichzeitig war das Lied tröstend. Zumindest für sie, wenn auch nicht unbedingt für Beltan. Sie schickte sich an, die Worte erneut zu murmeln.
Seine Lider zuckten.
Grace atmete zischend ein. Es ist nur ein unbedingter Reflex, Frau Doktor. Deute nicht mehr hinein, als wirklich dahinter steckt. Trotzdem drückte sie die Hand auf seine Stirn und schloss die Augen.
Beltan!
Es war schwer. Die Fäden der Weltenkraft um sie herum waren so schwach wie Spinnweben. Als sie sie ergriff, fielen sie auseinander.
Beltan, hörst du mich? Ich bin es, Grace. Und Travis hat dich jede Nacht besucht.
Sie hielt den Atem an, lauschte angestrengt. Lediglich graue Stille umgab sie. Als sie dann gerade loslassen wollte, hörte sie es. Es war weit weniger als ein Wort, nur ein Gedankenfetzen, aber sie hörte es.
Grace riss die Augen auf. Es war Beltan. Er hatte das Geräusch in ihrem Geist gemacht, davon war sie überzeugt. Sein Gesicht war wieder bewegungslos, aber es gab keinen Zweifel daran, was sie gehört hatte. Sie ergriff seine Hand. Fest. »Komm schon, Beltan. Du musst zu uns zurückkommen. Bitte versuche es. Für mich – für Travis.«
Grace wusste, wenn er nicht bald erwachte, würden
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