Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
Martin gern sah, mit einem Piep ausgeblendet hätte.
Fame? Was ist das denn für ein Scheiß, Martin? Du solltest dir lieber Das A-Team ansehen. Mr. T – das ist ein richtiger Mann. So solltest du sein. Natürlich ohne den Schmuckkram. Wirbel rum wie diese Hupfdohlen da, und sie werden dich noch den süßen Martin nennen. Hörst du mir überhaupt zu?
Martin hörte nicht zu. Er drehte seine Pirouetten, nachts, allein in seinem Schlafzimmer unter dem Dach.
Als seine Tante noch am Leben gewesen war, waren die Dinge nicht so schlimm gewesen. Sie hatte gelacht, wenn Martin für sie getanzt hatte, einen Löffel wie ein Mikrofon vor den Mund gehalten hatte, während er die Lippen im Rhythmus ihrer alten Billie-Holiday-Platten bewegte. Dann, eines Tages, hatte Martin in seinem Schlafzimmer in den Spiegel geblickt, doch er hatte nicht sein Spiegelbild gesehen. Stattdessen hatte er seine Tante gesehen, so klar wie Ginger in Gilligan’s Island, wie sie über die Straße ging, die zwei Meilen von ihrem Haus entfernt war. Und dann hatte er zugesehen, wie ein Müllwagen eine rote Ampel nicht beachtete und sie überfuhr.
Er hatte immer geglaubt, Leute würden durch die Luft fliegen, wenn sie von einem Auto getroffen wurden, über den Bürgersteig rollten und dann wieder aufstehen, genau wie Lindsay Wagner, die Bionische Frau. Doch seine Tante war explodiert, als wäre die zerbrechliche, schwere Frucht ihres Lebens nur mit Mühe von ihrer Lebenskraft zusammengehalten worden. Einen Augenblick lang hatte sich der Spiegel blutrot gefärbt, dann hatte Martin in seine eigenen, weit aufgerissenen Augen geblickt.
Als er ins Erdgeschoss herunterstürmte, war die Polizei schon da und sein Onkel hatte bereits eine Flasche aufgemacht.
Etwa ein Jahr später schlich sich Martin, als sein Onkel auf der Couch schnarchte, in dessen Zimmer, plünderte den Kleiderschrank seiner toten Tante und rannte mit einem Arm voll Chiffon, Samt und knisterndem Polyester zurück auf den Dachboden. Und an diesem Nachmittag hielt die Farbe schließlich Einzug in das Leben des sechzehnjährigen Martin, und zwar in Form von Kanariengelb, heißem Pink und Limonengrün. Schwester Marjoram war geboren worden.
Als sein Onkel ein Jahr später endlich herausfand, was mit den Kleidern seiner toten Frau geschehen war, warf er Martin auf die Straße. Es war das Beste, das jemals jemand für Martin getan hatte.
Es ist offensichtlich, dass du unter einer Depression, geringem Selbstwertgefühl und einem Mangel an Identität leidest, hatte ihm der Berater des Jugendzentrums gesagt und erschöpft auf seine engen Jeans, das Tube-Top und die Federboa gestarrt. Darum hast du dir eine neue Persönlichkeit erschaffen.
Aber der Berater irrte sich. Schwester Marjoram war nicht die Person. Das war Martin J. Morris. Sechzehn Jahre lang hatte er nicht die geringste Idee gehabt, wer er eigentlich war, hatte den dürren Jungen im Spiegel mit den Augen eines Fremden angestarrt. Und dann hatte er an jenem Tag endlich das gefunden, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er danach gesucht hatte, und zwar hatte er es in einem Paar Stöckelschuhen und einer Handtasche von Chanel gefunden. Er hatte sich selbst gefunden.
Und sie war nicht länger Martin. Sie war etwas anderes, etwas Wunderbares und – trotz der ganzen Falschheit, den Federn und Ziermünzen, den Enthaarungscremes, den Collageninjektionen und dem Silikon – in jeder Hinsicht Wahrhaftiges.
Sie war Schwester Marjoram, das Salz des Lebens.
Und in diesem Augenblick war sie mehr als nur etwas verwirrt.
»Was geht hier vor, Mädchen?«
Marji wusste, dass sie übernatürlich begabt war, genau wie sie wusste, dass sie in lavendelfarbener Chenille spektakulär aussah, während es Chi-Chi Buffet wie Miss Piggy aussehen ließ. Ein Dutzend Mal in ihrem Leben hatte sie im Spiegel Dinge gesehen, so wie an dem Tag, an dem ihre Tante gestorben war, oder wie an dem Tag, an dem sie sich selbst Marjis House of Mystery hatte eröffnen sehen. Und jede der Visionen hatte sich erfüllt. Aber heute schien sie ihr Talent im Stich gelassen zu haben. Da waren so viele klare Bilder, aber nichts passte richtig zusammen; es war wie ein zerbrochener Spiegel, den sie nicht reparieren konnte.
Sie ließ die Karte mit dem Teufel los. Das Böse war etwas Reales und Gefährliches, aber es lag in der Ferne, umgeben von Karten, die auf Reisen, die Vergangenheit und Träume hinwiesen. Sie bewegte den Finger zu einer Karte im äußeren Kreis. Der
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