Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Sonnenuntergangs. Im Schwarzen Turm hatte der Mann in der schwarzen Kutte – den sie für einen weiteren Runenbrecher hielten – die Rune des Himmels erbeutet. Wenn er diese Rune brach, würde er die Grenzen der Welt zerschmettern und Mohg die Rückkehr nach Eldh ermöglichen. Dann würde Mohg nur noch die drei Großen Steine benötigen. Damit konnte er die Erste Rune brechen und die Welt nach seinem Antlitz neu schmieden.
Der Fahle König besaß bereits einen der Imsari – Gelthisar, der Stein des Eises. Im Schwarzen Turm hatte er versucht, Travis Sinfathisar, den Stein des Zwielichts, zu entreißen, aber seine Handlanger hatten versagt, auch wenn es knapp gewesen war. Dann war Tira erschienen, und sie hatte Travis Krondisar übergeben, den Stein des Feuers.
Solange die Kindgöttin Krondisar im Himmel beschützt hatte, war es dem Fahlen König unmöglich gewesen, daran heranzukommen, und Mohg hätte die Erste Rune nicht brechen können. Aber jetzt befanden sich alle drei Imsari auf Eldh; der Fahle König musste nur kommen und sie sich holen.
»Warum hast du mir den Stein gegeben?«, hatte er Tira am vergangenen Abend in Graces Gemach gefragt. »Was soll ich damit machen?«
Sie hatte ihm nur ein schüchternes Lächeln gezeigt, war weggelaufen und hatte das zur Hälfte vernarbte Gesicht in Graces Röcke vergraben.
Manche Dinge sollte man zerstören, stieg eine krächzende Stimme aus seiner Erinnerung empor.
Bruder Cy. Das hatte ihm der seltsame Prediger in Castle City gesagt. Travis wusste jetzt, dass Cy und Samanda und Mirrim alle Alte Götter waren. Vor tausend Jahren hatten sie geholfen, Mohg aus dem Kreis von Eldh zu locken, und sie wurden dort zusammen mit ihm eingesperrt, als der Weg blockiert wurde. Aber dann war Travis nach Castle City ins Jahr 1887 gereist, und sein Sinfathisar war mit dem Sinfathisar in Kontakt gekommen, den Jack Graystone bei sich trug. Zwei Exemplare des Steins konnten nicht zur selben Zeit am selben Ort sein; ein Riss entstand, der es Mohg und Cy erlaubte, zur Erde zu kommen. Und Jahrzehnte später den Streitkräften des Fahlen Königs, zusammen mit dem Säugling, der zu Grace Beckett heranwachsen sollte.
Travis rieb sich den schmerzenden Nacken. Was hatte Bruder Cy nur gemeint? Ihm fielen wieder Beltans Worte ein. Wenn etwas kaputt ist, kann man es manchmal nur reparieren, indem man es zuerst zerstört.
Aber eine Welt war nicht das Gleiche wie ein Gebäude, und Travis würde Eldh nicht zerstören, ganz egal was die Prophezeiungen von Hexen und Drachen sagten.
Er sah den Arbeitern noch eine Weile zu. Eines war sicher: Der Angriff auf Calavere bedeutete, dass der Krieg nicht länger drohte; er hatte bereits angefangen. König Boreas hatte Boten in alle Gegenden seiner Domäne geschickt, um ein Heer zusammenzurufen. In diesem Augenblick bereiteten sich seine Barone, Herzöge, Grafen und Ritter auf eine Schlacht vor; sie würden nach Calavere kommen. Boreas hatte auch den Herrschern der anderen Domänen Boten geschickt und sie an den Pakt erinnert, der vor über einem Jahr auf dem Rat der Könige geschlossen worden war. Er hatte sogar einen Boten nach Tarras geschickt.
Travis fröstelte. Die Sonne war nahe an den Rand der Schlossmauer gesunken. Er rutschte von seinem Sitzplatz und ging zum Bergfried zurück. In der Nähe des Tors zum Oberen Burghof traf er Aryn.
»Hallo«, sagte er. Sie zuckte zusammen. Sie hatte die Männer bei der Arbeit konzentriert beobachtet, genau wie er. Sie blinzelte und wandte sich ihm zu.
»Travis. Es tut mir Leid. Ich habe Euch nicht gesehen.«
Ihr Blick richtete sich wieder auf die zerstörte Mauer und die Arbeiter, und ein Schatten glitt über ihr Gesicht.
»Was ist?«, fragte er.
»Hattet Ihr je das Gefühl, etwas bereits zuvor gesehen zu haben, obwohl Ihr genau wisst, dass ihr es nicht gesehen habt?«
»Wo ich herkomme, nennt man das Déjà-vu. Was glaubt Ihr denn schon zuvor gesehen zu haben?«
»Das.« Sie zeigte auf die zerstörten Türme. »Das kommt mir alles so vertraut vor. Ich bin mir sicher, ich habe das schon zuvor gesehen, oder etwas Ähnliches. Aber das ist unmöglich, oder?«
Travis fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes rotbraunes Haar. »Seit ich nach Eldh gekommen bin, habe ich lernen müssen, dass unmöglich nur bedeutet, dass es bis jetzt noch nicht geschehen ist.«
Das entlockte ihr ein leises Lachen. »Ich nehme an, Ihr habt Recht. Wir haben so viele Dinge gesehen, die ich vor einem Jahr noch für unmöglich
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