Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
bereits die dürren Äste kahler Bäume entdecken; sie lehnte sich über Shandis' Hals und drängte das junge Pferd zu vollem Galopp. Ihr war klar, dass Durge sie warnen würde, dass es leichtsinnig war, so schnell im Schnee zu reiten, aber zuerst musste er sie erwischen.
Eisiger Wind lähmte ihre Wangen, die verschneite Landschaft raste vorbei. Grace riskierte einen Blick über die Schulter; sie hatte Recht – Schwarzlocke donnerte verbissen hinter Shandis her, und Durge schaute finster und missbilligend drein. Das war gut. Durge brauchte etwas, über das er sich sorgen konnte, und auf diese Weise würde er nicht über ihr eigentliches Ziel nachdenken.
Im Schloss erzählte man sich viele Geschichten über den Dämmerwald. Soweit die Erinnerungen reichten, war der urzeitliche Wald ein Ort der Schatten und Gerüchte gewesen. Es war die Rede von Lichtern, die spät in der Nacht zwischen den Bäumen hervorschimmerten – Lichter, die einen Mann in den Wald lockten, nur um zu verschwinden, wenn er tief in ihn eingedrungen war, so dass er sich unweigerlich verirrte. Manche flüsterten von seltsamer Musik oder unheimlichem Gelächter, die sie am Waldrand vernommen hatten, und es hieß, kein Mann könnte sich mit der Axt in der Hand dem Wald näher als hundert Schritte nähern. Dann würde ihn eine furchtbare Angst überkommen und ihn zittern und ihn sich selbst bepinkeln lassen.
Als Grace diese Geschichten das erste Mal gehört hatte, hatte sie sie als Erfindungen der einfachen Leute abgetan. Dann hatte sie Trifkin Moosbeere und seine seltsame Schauspielertruppe kennen gelernt und war gezwungen gewesen, ihre Einstellung zu überdenken. Das Kleine Volk war kein Produkt einer fruchtbaren Fantasie, zumindest nicht auf dieser Welt. Elfen und Zwerge und die Grünen Männer – sie alle waren real. Und zumindest ein paar von ihnen hausten in den Schatten des Dämmerwaldes.
Als Durge sie einholte, hatten sie den Waldrand erreicht. Grace zügelte Shandis und wartete, bis Durge abgestiegen war und ihr seine Hand anbot. Mit dieser schweren Kleidung hätte sie es allein nie zum Boden geschafft, ohne kopfüber in den Schnee zu stürzen.
»Danke, Mylord«, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, gewinnenden Lächeln, als Durge ihr aus dem Sattel half. »Ihr seid so stark, wie Ihr freundlich seid.«
Der Ritter sah sie nur stirnrunzelnd an, sein Schnurrbart zuckte. »Versucht nicht, mich mit Schmeicheleien abzulenken, Mylady. Ich sehe genau, wo Ihr uns hingeführt habt, und ich muss sagen, ich bin nicht erfreut. Das ist ein seltsamer und gefährlicher Ort, und auch wenn es einem Ritter nicht zusteht, seine Herrin in Frage zu stellen, frage ich mich trotzdem, warum Ihr uns hergebracht habt.«
Sie ergriff seine Hand. »Ich bin gekommen, um das Kleine Volk um Hilfe zu bitten.«
»Mylady, so etwas dürft Ihr nicht tun!« Der Ritter zog seine Hand zurück und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Das Kleine Volk mag uns ja in der Vergangenheit beigestanden haben, aber das nur aus eigenem Willen und Beweggründen. Sicherlich ist das ein gefährlicher Plan. Wir sollten sofort zum Schloss zurückkehren.«
Sein Ausbruch überraschte sie nicht. Durge war ein Mann der Logik; er mochte es nicht, sich mit Magie abzugeben. Grace verstand ihn nur zu gut; sie war selbst Wissenschaftlerin. Aber wenn sie sich dem Fahlen König und seinem Heer stellen musste, würde sie Hilfe brauchen, ganz egal von wem. Sie ging auf den Waldrand zu. Obwohl die Bäume kahl waren, konnte sie nicht weiter als ein paar Dutzend Schritte in den Wald hineinsehen.
»Das kann unmöglich so gefährlich sein, Durge«, sagte sie. »Sonst wärt Ihr niemals an diesem Tag vor über einem Jahr durch den Wald geritten, und Ihr hättet mich nicht im Schnee liegend dort gefunden.«
Durge stieß einen nebligen Seufzer aus. »Dass ich Euch hier gefunden habe, ist etwas, für das ich ewig dankbar sein werde, Mylady. Dennoch ist es meine Pflicht, diesen Plan in Frage zu stellen. An dem Tag, an dem ich Euch fand, da ritt ich nur durch die Ausläufer des Dämmerwaldes, ich folgte einem Wildpfad nicht mehr als hundert Schritte hinein. Ich hatte die Ebene noch zwischen den Bäumen im Blick. Wenn wir die finden wollen, die Ihr sucht, wären wir gezwungen, tief in diesen Wald vorzustoßen, und sicherlich ist es für Sterbliche nicht möglich, sich dort hineinzubegeben.«
»Nein, das glaube ich nicht.« Sie berührte die papierne Rinde eines Baumes. »Ich glaube, ich bin schon einmal
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