Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
so nahe, dass Graces Ohren dröhnten. Im gleichen Augenblick erbebten die Immergrün-Büsche auf der einen Seite der Lichtung und platzten auseinander, und etwas Großes und Schlankes und Weißes schoss hervor. Es verharrte, keine fünf Schritte weit entfernt, und Grace schaute in dunkle, feuchte Augen.
Es war ein Hirsch. Er war groß und muskulös, sein Fell war von einem silbrigen Weiß, das mit den um sie herum befindlichen Bäumen verschmolz. Er hielt den Kopf stolz in die Höhe gereckt und trug ein gewaltiges Geweih mit viel zu vielen Spitzen, als dass Grace sie schnell hätte zählen können. Der Hirsch stieß ein Schnauben aus. dann sprang er nach links und verschwand zwischen den Bäumen.
»Soll Stahl brechen und Stein splittern«, fluchte Durge. »Ein so prächtiges Tier habe ich noch nie gesehen.« Er griff über die Schulter nach dem Breitschwert, das auf seinen Rücken geschnallt war, und tat einen Schritt nach vorn.
Grace packte seinen Arm. »Nein, Durge. Verfolgt ihn nicht.«
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Warum nicht, Mylady? Das wäre eine schöne Trophäe für den König.«
Sie suchte nach den richtigen Worten. Sie wusste nicht, warum es falsch war, dieses Tier zu jagen – nur dass es zu stolz, zu sagenhaft war, um von Sterblichen wie ihnen verfolgt zu werden. Aber bevor sie etwas sagen konnte, erscholl das Horn erneut, gefolgt von Hufschlag. Grace und Durge drehten sich um und sahen, wie ein Pferd über die Büsche setzte, aus denen eben noch der Hirsch hervorgeprescht war.
Das Pferd war genauso prächtig wie der Hirsch, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Es war klein – kaum größer als ein Pony –, hatte zierliche Beine und ein pechschwarzes Fell. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein silberner Stern ab.
Ein Junge ritt auf dem Pferd, ohne Sattel oder Zaumzeug. Er schien zehn oder elf Jahre alt zu sein, und er war schlank und schlaksig mit einem roten, wilden Haarschopf. Ein Bogen war auf seinen Rücken geschnallt, so wie ein Köcher voller Pfeile mit grünen Federn. Trotz der Kälte war er nur mit Lederhosen bekleidet, seine Brust und seine Füße waren nackt. Seine Haut war so braun wie Maddok.
Der Junge hielt ein kleines silbernes Horn in der Hand. Er blies wieder hinein und rief dann mit schriller Stimme: »Hier entlang! Der König ist hier entlang!« Er berührte den Hals des Ponys, und das Tier wirbelte herum, bereit, im Galopp davonzustürmen.
Grace und Durge standen ihm im Weg. Bevor sie zur Seite springen konnten, kam das Pferd rutschend zum Stehen. Sein Reiter starrte mit berggrünen Augen auf sie herab, und erst jetzt fielen Grace die stumpfen Hörner auf, die aus seiner Stirn wuchsen. Das war kein Junge.
»Was ist das?«, rief der Reiter, und ein hämisches Grinsen breitete sich auf seinem sommersprossigen Gesicht auf. »Sterbliche? Eine Art Wild, das sicherlich, aber nicht so edel wie das, was wir jagen. Wie kommt ihr her?«
Grace war so verblüfft, dass sie bloß mit einer simplen Wahrheit antworten konnte. »Wir sind dem Pfad gefolgt.«
»Der Pfad?«, fauchte der Reiter. »Und wer hat euch die Erlaubnis gegeben, einen Fuß auf ihn zu setzen?«
Durge räusperte sich. »Der Pfad ist für alle da. Wir brauchen keine Erlaubnis, um ihn zu benutzen.«
In den Augen des Reiters blitzte Zorn auf. »Da irrst du dich, Sterblicher. Der Pfad gehört uns, wie alles in diesem Wald. Ihr seid Eindringlinge.«
»Dann werden wir sofort gehen«, sagte Grace. Das Verlangen, mit dem Kleinen Volk zu sprechen, war in ihr wie eine zu einem Stumpf heruntergebrannte Kerze erloschen. Trotz des jungenhaften Erscheinungsbildes ging von dem Reiter eine bedrohliche Ausstrahlung aus. Die Brauen über seinen grünen Augen führten schräg nach oben, was seinem Gesicht einen grausamen Aspekt verlieh. »Gehen wir«, sagte sie und zupfte an Durges Arm.
»Nicht so schnell«, sagte der Reiter und führte sein Pferd in einem schnellen Kreis um sie herum. Andere Gestalten stahlen sich auf die Lichtung. Einige schlichen auf allen vieren, während andere auf zwei Gliedmaßen stolzierten; manche krochen auf dem Bauch oder schwebten mit Schwingen, die so fein wie ein Spinnennetz gewoben waren. Grace hatte solche Kreaturen auf Sindars Schiff gesehen, aber immer nur flüchtig, aus dem Augenwinkel. Hier standen sie voll im Blickfeld.
Es war schwer zu sagen, wie viele es waren, da sie ununterbrochen zwischen den Bäumen hervorkamen und wieder verschwanden. Da waren braune Grüne Männer mit dicken
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