Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
unmöglich, ihre Überraschung zu verbergen, als ihr plötzlich sämtliche Worte, sämtliche Bewegungsmöglichkeiten fehlten. Der König beugte den Kopf, und seine Lippen fuhren an ihrem Mund vorbei, berührten ihn fast. Sie wich nicht zurück. Aber dann, im letzten Augenblick, wandte er den Kopf und küsste sie auf die Wange – sanft und keusch –, bevor er wieder zurücktrat.
Grace zitterte. In diesem Augenblick erkannte sie, wie sehr Boreas dem Gott ähnelte, dem er folgte. Wie Vathris war er ein so starker, so mächtiger Mann, dass sich keiner seinen Wünschen verwehren konnte. Wie sollte sie ihm jemals widerstehen, wenn er den Wunsch hegte, sie zu der seinen zu machen? Dennoch, er hatte sie gehen lassen, doch war das nicht mächtiger als selbst der strengste Befehl?
Grace hob das Kinn und erwiderte seinen Blick. »Euer Majestät, für Eure Freundlichkeit stehe ich in Eurer Schuld. Mehr als das, ich habe Euch gern, also werde ich Euch nicht anlügen. Tatsache ist, ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin, jemanden so zu lieben, wie Ihr Königin Narenya geliebt habt. Und ich bin ziemlich sicher, dass ich keine gute Ehefrau abgeben würde. Aber wenn Ihr je eine Königin an Eurer Seite braucht, braucht Ihr nur zu fragen, und ich werde da sein.«
Grace war über ihre eigenen Worte erstaunt, aber sie wusste, dass sie die Wahrheit waren. Doch der König nahm ihr Angebot nicht an. Stattdessen verblich sein Lächeln, und ein seltsames Funkeln trat in seine Augen, aber was es war – Freude? Bedauern? –, das konnte Grace nicht mit Sicherheit sagen.
Er berührte ihre Wange mit einer rauen Hand. »Mögen die Götter mit Euch sein, Mylady.« Dann ging er. Er verharrte, um für das kleine Heer unter ihnen die Faust zu heben, was einen Jubelruf zur Folge hatte, dann verschwand der bullige König von Calavan im Schlosstor.
»Worum ging es?«, wollte Falken wissen. Der Barde kam mit Melia an der Seite näher. Beide trugen dicke Reitumhänge.
»Er hat mir Glück gewünscht, das ist alles.« Grace zog den Umhang enger. Die Sonne war hell, aber die Luft war kalt. Das Frühlingsfest war nur noch einen Monat entfernt, aber noch hatte der Winter nicht seinen Griff um die Welt gelockert.
»Sag mir, Liebes«, sagte Melia. »Hast du auf dem Weg hierher irgendwo Prinz Teravian gesehen?«
»Ich fürchte nicht. Vermutlich lauert er hier irgendwo.«
»Bestimmt.« Die Lady mit den Bernsteinaugen seufzte. »Das ist nicht schön. Ich hatte gehofft, mich von ihm verabschieden zu können.«
Die Kälte musste Graces Verstand gelähmt haben. »Was meinst du, Melia? Teravian reitet nirgendwo hin.«
»Nein, Liebes«, erwiderte Melia. »Aber wir.«
Grace starrte die Lady und den Barden an. »Du meinst, ihr begleitet uns nach Burg Todesfaust?« In ihr stieg Hoffnung auf, die sofort wieder zunichte gemacht wurde, als Falken den Kopf schüttelte.
»Uns steht unsere eigene Reise bevor. Shemal ist noch immer irgendwo auf der Welt verborgen, und das gilt auch für den anderen Runenbrecher. Ich vermute, finden wir die eine, finden wir auch den anderen.«
Melia ergriff Graces Hand. »Es tut mir Leid, dass wir nicht mit dir kommen können, Ralena. Aber du hast deine Aufgabe, und wir haben die unsrige. Jetzt, da mein geliebter Bruder Tome nicht mehr ist, bin ich die Letzte meiner Art, und Shemal ist die Letzte der ihren. Es ist richtig, dass wir uns einander stellen, jetzt, wo das Ende naht, und Falken hat sich netterweise bereit erklärt, mich zu begleiten.«
Grace wusste nicht, was sie sagen sollte, also begnügte sie sich mit: »Ich werde euch beide so vermissen.« Dann warf sie sich in ihre Arme.
»Weine nicht, Liebes«, sagte Melia, als sie Grace fest umarmte. »Wir werden uns vor dem Ende wieder sehen. Davon bin ich überzeugt.«
»Vergiss nie deine Herkunft, Grace«, sagte Falken und küsste sie auf die Stirn. »Du bist die Königin von Malachor. Burg Todesfaust wird dich erkennen.«
Durge kam heran und räusperte sich; Zeit zu gehen. Zögernd löste sich Grace von Melia und Falken, dann drehte sie sich um und suchte nach Beltan und Vani. Aber bevor sie zu ihnen gehen konnte, rauschte eine Frau mit einem bunten Umhang heran. Sie nickte Lirith und Aryn zu, dann blieb sie vor Grace stehen.
»Ich kann Euch nicht ohne Sias Segen ziehen lassen«, sagte Mirda mit ihrer ruhigen Stimme. »Möge sie Euch in all ihren Verkörperungen leiten: Jungfrau, Mutter und Greisin.«
Von der eleganten Hexe ging eine Aura des Friedens aus, die
Weitere Kostenlose Bücher