Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
mit silbernem Garn aufgestickte Symbol stellte nicht Krone und Schwerter von Calavan dar. Stattdessen war es ein Stern, der von einem Knoten mit vier Schlaufen umgeben wurde. Grace kannte das Symbol gut. Falken schloss immer seinen Umhang mit einer Brosche, die das gleiche Muster aufwies.
»Das ist das Emblem von Malachor«, sagte sie erstaunt.
»Ihr müsst einen Mann aussuchen, der Euer Standartenträger sein soll. Euer Majestät«, sagte Durge mit nachdenklichem Blick. »Es muss ein Mann sein, dem Ihr mehr als allen anderen vertraut, dessen Herz Euch nie im Stich lassen wird. Denn sollte Eure Standarte jemals fallen, dann ist alles verloren.«
Grace musste nicht einmal darüber nachdenken. »Ihr, Durge. Ich möchte, dass Ihr sie tragt.«
Sein Zögern war deutlich zu sehen. »Mylady, ich kann … das heißt, sicherlich gibt es jemanden, der besser dafür geeignet wäre.«
Einen Augenblick lang durchfuhr ein Eissplitter der Furcht Graces Herz. Durge hatte sich noch vor keiner Pflicht gedrückt, um die sie ihn gebeten hatte. Warum zögerte er jetzt? Sie dachte über seine Worte nach, dass die Standarte von jemandem getragen werden musste, dessen Herz sie niemals im Stich ließ …
Aber er kann nicht über den Eisensplitter Bescheid wissen. Er ist bescheiden, das ist alles.
Sie lenkte Shandis näher an Schwarzlocke heran und drückte ihm das Banner in die Hand. »Bitte, Durge. Für mich.«
Er holte tief Luft, dann nahm er das Banner entgegen. »Wie Ihr wünscht, Euer Majestät. Ich werde es mit meinem Leben schützen.«
Durge rief nach einer Lanze. Er befestigte das Banner an der Spitze, dann richtete er sie auf und steckte das stumpfe Ende in seinen Steigbügel. In diesem Augenblick fuhr eine Böe über den Fluss, und das Banner entfaltete sich und der aufgestickte Stern funkelte. Hinter ihnen ertönte Gemurmel. Grace hielt den Blick nach vorn gerichtet, aber sie wusste, dass wenn sie nach hinten geblickt hätte, sie das Staunen in ihren Augen gelesen hätte. Für diese Männer war Malachor ihr ganzes Leben lang eine Legende gewesen – die Geschichte eines seit langer Zeit verlorenen, goldenen Zeitalters. Indem sie dieses Banner entfaltet hatte, hatte sie diese Legende gerade zu neuem Leben erweckt.
»Seht jetzt nicht hin, Euer Majestät«, sagte Tarus leise und beugte sich auf seinem Sattel herüber, »aber alle starren Euch an.«
»Dann falle ich wohl besser nicht von meinem Pferd.«
Am späten Nachmittag dieses ersten Tages nach dem Aufbruch vom Schloss lenkte Großmeister Oragien sein braunes Maultier neben Shandis.
»Entschuldigt, Euer Majestät, aber darf ich Euer Angebot annehmen und eine Zeit lang an Eurer Seite reiten?«
Die Ehrfurcht in seiner Stimme ließ Grace innerlich zusammenzucken. Jeder nahm diese Sache mit der Königin viel zu ernst, aber vermutlich führte daran kein Weg vorbei.
»Ihr dürft mit mir reiten, wann immer Ihr wollt, Großmeister.«
»Danke, Euer Majestät. Ich fürchte, die Kälte ist für diese alten Knochen ein schlimmer Gefährte, auch wenn der junge Meister Graedin eifrig die Rune des Feuers spricht. Habt Ihr ihn kennen gelernt? In all den Jahren im Grauen Turm ist mir kein so viel versprechender Schüler begegnet. Natürlich mit Ausnahme von Meister Wilder.«
»Ich freue mich darauf, ihn kennen zu lernen«, erwiderte Grace.
Oragien lachte. »Da habt Ihr aber Glück, Euer Majestät, denn da kommt Meister Graedin. Ich denke, er ist begeistert, Euch kennen lernen zu dürfen, und zweifellos hat er meinen Ritt an Eure Seite als Gelegenheit erkannt. Er ist wagemutig.«
»Dann wird er es bestimmt weit bringen.« Wenn ich ihn vorher nicht in den Tod schicke, fügte Grace in Gedanken hinzu.
Der Mann, der auf dem Maultier auf- und abhüpfte, sah so jung aus, dass Grace ihn auf der Erde für einen Collegestudenten gehalten hätte. Der Bart auf seinen Wangen war kaum mehr als ein Flaum, und seine dünnen Arme und Beine fuchtelten wild durch die Gegend, während er ritt. Einen Moment lang befürchtete Grace, sein Maultier würde gegen sie und Shandis stoßen, aber im letzten Augenblick gelang es dem jungen Mann, das Tier zu zügeln.
»Ich hoffe doch, dass Ihr Eure Runen besser unter Kontrolle habt als Euer Tier, Meister Graedin«, sagte sie scharf, auch wenn sie ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, weil sich sein jungenhaftes Gesicht rot verfärbte.
»Vergebt mir, Euer Majestät«, sagte er zerknirscht. »Ich habe heute erst gelernt, dass es keine Rune für
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