Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
war groß und stolz, mit ernsten Zügen, auf seiner Robe glühten Symbole der Macht. Grace hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um einen Runenmeister handelte. Oder er einer gewesen war, als diese Magie vor Jahrhunderten erschaffen worden war.
»Ich grüße Euch, Lord von Malachor, Träger der Hoffnung«, sagte das Abbild des Runenmeisters. Seine Augen brannten wie Kohlen. »Da man Euch diese Rune gegeben hat, hat man Euch eine heilige Pflicht übergeben, eine, die über allen anderen steht, die die Erben von König Ulther erfüllen müssen. Es ist Eure Bürde, die Magie von Burg Todesfaust zu erwecken, wenn die Zeiten der Dunkelheit erneut kommen und sich die Gefahr nähert.«
»Aber wie?«, flüsterte Grace und starrte die leuchtende Gestalt an. »Wie erwecke ich sie?«
Der Runenmeister war nicht wirklich da; das war nur ein Bild – eine Art magischer Aufnahme, die vor langer Zeit erstellt worden war. Trotzdem schienen seine Worte eine Antwort auf ihre Fragen zu sein.
»Mit unseren Händen und Magie haben wir Todesfaust erschaffen«, fuhr das Abbild des Runenmeisters fort. »Wir durchtränkten ihre Steine mit mächtigen Zaubern. Und sobald die Steine erwacht sind, wird kein Geschöpf des Bösen ihre Berührung ertragen können und überleben. Um diese Verteidigung zu nutzen, müsst Ihr sie nur befehlen. Die Festung wird die Erben von König Ulther erkennen. Von jeher ist das Blut von Malachor der Schlüssel zur Hoffnung gewesen – das werden Euch Euer Vater und Eure Mutter gesagt haben. Möge das Licht des Leuchtenden Turms nie versagen.«
Die Worte verstummten, das Bild des Runenmeisters flackerte und verschwand. Die Rune auf dem Boden war wieder klein und matt.
Tarus schnaubte. »Nun, das war ja nicht gerade schrecklich hilfreich.«
»Faszinierend«, sagte Oragien, der den Calavaner anscheinend nicht gehört hatte. »Absolut faszinierend! Ich glaube, es war nicht allein das Sonnenlicht, das die gebundene Rune erweckt hat. Sicherlich verlangte ihre Magie auch, dass einer aus Ulthers Geschlecht sie hielt.«
Grace bückte sich und hob die Rune auf; sie fühlte sich kühl an. »Vermutlich dachte der Runenmeister, er würde sich klar ausdrücken«, sagte sie zu Tarus. »Hat er nicht etwas davon gesagt, dass meine Eltern mir etwas sagen würden? Der Runenmeister ist davon ausgegangen, dass ich bereits über dieses Wissen verfüge.« Aber das tat sie nicht; ihre Eltern waren gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Durge pustete durch seinen Schnurrbart. »Für einen mit der Hoffnung markierten Stein bringt er nur sehr wenig. Aber vielleicht liegt in den Worten des Runenmeisters ein Rätsel, das wir ergründen könnten, wenn wir ein paar Monate Zeit hätten.« Der Embarraner räusperte sich. »Die wir natürlich nicht haben.«
»Könnt Ihr die Botschaft noch einmal hören lassen?«, fragte Paladus.
Das konnten sie. Jedes Mal, wenn Grace die Rune in einen Sonnenstrahl hielt, erschien das Abbild des Runenmeisters. Aber jedes Mal blieb seine Botschaft gleichermaßen geheimnisvoll. Da war etwas, das Grace übersah, das sie hätte wissen sollen, es aber nicht tat.
Paladus legte ihr die Hand auf die Schulter. »Keine Angst, Euer Majestät. Es ist besser, Euer Vertrauen in unsere Fähigkeiten als Krieger zu setzen statt in das Werk vor langer Zeit verstorbener Magier. Wir werden diese Festung gegen den Feind halten, Zauber oder nicht.«
Grace schenkte dem Kommandanten ein dankbares Lächeln. Aber im Verlauf des Tages sank ihre Laune. Sie war schon eine tolle Erbin eines alten Königreichs. Man erwartete von ihr, dass sie wusste, wie man die Magie von Todesfaust zum Leben erwecken musste. Aber sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung.
Der Sonnenuntergang fand sie erneut oben auf dem Turm, wie sie dem in der Ferne einsetzenden Zwielicht zusah. Die Rauchwolken waren höher als je zuvor, und hinter ihnen flackerte ein giftgrüner Schimmer. Die Sonne schlüpfte hinter die scharfe Kante der Berge. Wenn der Sonnenaufgang die Hoffnung brachte, was tat dann die Abenddämmerung?
Hinter ihr ertönte der Laut nackter Füße auf Stein. Grace drehte sich um und musste trotz der Furcht in ihrem Herzen lächeln.
»Tira. Was machst du denn hier oben?«
Wie gewöhnlich trug das kleine Mädchen nur sein dünnes, aschgraues Kleidchen, und seine Arme und Füße waren nackt.
»Es tut mir Leid, dass wir in den letzten Tagen nicht viel Zeit zum Spielen hatten«, sagte Grace, und sie meinte es auch so.
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