Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
gelassen.
»Ich bin so müde«, sagte Travis leise; er schaute noch immer auf den Fernseher, wo die Bilder der Stahlkathedrale flimmerten. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte.«
Der Prediger legte ihm die knochige Hand auf die Schulter und drückte sie. »Du wärst überrascht, mein Sohn. Du bist viel stärker, als du glaubst. Aber fasse Mut. Wenn das, was Schwester Mirrim gesagt hat, der Wahrheit entspricht – und ich wüsste nicht, dass sich eine ihrer Visionen jemals als falsch erwiesen hat –, dann ist deine Reise fast an ihrem Ende.«
Travis wusste nicht, ob er von den Worten erleichtert oder entsetzt sein sollte. Er schaute sich im Speisesaal um und entdeckte, dass er – wenn er sich konzentrierte – sie jetzt so sehen konnte, wie sie in Wirklichkeit waren. Nicht die Männer und Frauen, die in der Mission Zuflucht gesucht hatten, sondern die anderen – die Bruder Cy immer begleiteten, die ihm bei seiner geheimnisvollen Tätigkeit halfen: Ziegenmänner und Baumfrauen, Grüne Männer und hässliche kleine Kreaturen, die mit Schmetterlingsflügeln durch den Raum flatterten.
Wie konnte er von Müdigkeit sprechen? Bruder Cy und seine Anhänger waren jetzt seit über tausend Jahren auf ihrer eigenen Reise, seit sie dabei geholfen hatten, Mohg von Eldh zu verbannen, und sich dann jenseits des Kreises der Welt gefangen wieder gefunden hatten. Wie lange waren sie in der Dunkelheit umhergetrieben – nicht nur obdachlos, sondern weltenlos –, bis Travis in der Zeit zurückreiste und unbeabsichtigt mit Sinfathisar einen Spalt in der Welt Erde öffnete? Dieser Fehler hatte Mohg erlaubt, diese Welt zu betreten. Aber wie die Büchse, die Pandora närrischerweise vor langer Zeit geöffnet hatte, hatte er ebenfalls zugelassen, dass sich Hoffnung in Gestalt von Cy und seinen Gefährten in die Welt stahl.
»Werdet ihr jemals in eure Heimat zurückkehren?« Travis schaute auf und sah Bruder Cy in die Augen, die an schwarze Steine erinnerten. »Sie und Mirrim und Samanda und all die anderen? Wenn das alles vorbei ist, werdet ihr endlich nach Hause können?«
Einen Augenblick lang glomm in Cys Blick ein Licht auf – eine Trauer von schier unergründlicher Tiefe.
»Heimat«, flüsterte er mit seiner heiseren Stimme. »Du kannst es nicht wissen, mein Sohn. Du kannst unmöglich wissen, wie sehr ich versucht war, meine Finger in den Spalt zu zwängen, den du in diese Welt gemacht hast, und ihn mit meiner ganzen Macht weit aufzureißen.«
Er stand auf, und seine Stimme hob sich zu dem triumphierenden Rhythmus einer Predigt. »Ich sehe es jetzt genau vor mir, so klar, wie Schwester Mirrim es sehen könnte. Ich würde mit meinen Anhängern im Gefolge durch den Spalt marschieren. Ich würde vor den Herrn der Nacht treten und in einer Schlacht mit ihm ringen, die die Meere zum Kochen bringen und die Berge zu Staub zerschmettern würde. Ich würde ihm die Großen Steine entreißen. Und wenn ich mich siegreich aus der Zerstörung erheben würde, würde die ganze Welt vor mir niederknien, und ich würde mich über sie erheben, als der Herr von allen!«
Die Leute im Speisesaal starrten in ihre Richtung, die Löffel auf halbem Weg zum Mund erstarrt. Bruder Cy stand stocksteif da, so weiß und starr wie eine Statue. Dann seufzte der Prediger, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, und der Augenblick war vorbei. Während seiner Ansprache hatte Travis einen flüchtigen Blick auf das Wesen werfen können, das er in Wirklichkeit war. Majestätisch, mächtig und schrecklich: ein Gott. Jetzt war er bloß wieder Bruder Cy, hager und in sich zusammengesunken in seinem verstaubten schwarzen Anzug.
»Nein«, sagte er, und seine Stimme war ein Flüstern. »Ich werde meinen Bruder nicht zerstören, nur um wie er zu werden. Diese Wahl habe ich schon vor langer Zeit getroffen. Das war unser aller Wahl – Ysani, Durnach und die anderen. Ich werde helfen, soweit es in meiner Macht steht, aber das ist nicht meine Aufgabe.«
Der Prediger schaute auf Travis herunter. »Ich glaube, da gibt es jemanden, mit dem du sprechen solltest, bevor du gehst, mein Sohn.« Er zeigte quer durch den Speisesaal auf die gut gekleidete Frau in den Dreißigern. Dann ging er zu der Tür, durch die bereits Mirrim und Samanda verschwunden waren.
Das leise Gemurmel kam wieder auf, als die Gäste wieder zu ihren Suppen und Unterhaltungen zurückkehrten. Travis sah zu der Frau in der Ecke des Speisesaals herüber, auf die Bruder Cy gedeutet hatte.
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