Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
weiterleben zu können. Wenn keine Hoffnung mehr da ist, tritt eine Ruhe ein, ein Frieden. Was gibt es noch zu fürchten, wenn einem der Tod sicher ist? Nein, sie verspürte keine Freude, dass die Krieger da waren; sie verspürte Entsetzen. Denn jetzt hatten sie eine Chance.
»Ihr könnt mich loslassen, Sir Tarus«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Ich glaube, ich kann wieder selbst stehen.«
»Wie Ihr wünscht, Euer Majestät, aber gebt nicht mir die Schuld, wenn Ihr mit dem Gesicht am Boden landet.«
»Ich bin die Königin. Ich übernehme die Verantwortung für mein Gesicht. Sam, wo sind Sir Durge und Kommandant Paladus?«
»Paladus ist auf der Mauer und hält Wache. Der Feind hält sich im Moment zurück. Es sieht so aus, als würden sie eine neue Waffe bauen, und ich bezweifle, dass sie angreifen, bevor sie fertig ist.«
»Eine Waffe? Was ist es?«
»Wir sind uns nicht sicher. Sie sind zu weit weg, um erkennen zu können, was sie da tun, aber Aldeth ist noch immer an der Geheimtür und versucht, einen näheren Blick darauf werfen zu können.«
Grace nickte. »Was ist mit Durge?«
»Ich habe ihn vor ein paar Stunden gesehen«, sagte Tarus. »Ich habe ihm Eure Befehle übermittelt, sich auszuruhen, und als ich ihn zuletzt gesehen habe, ging er zu den Unterkünften.«
Gut. Er würde seine Kräfte brauchen. Wie sie alle. »Informiert Paladus und Durge«, sagte sie zu Samatha. »Sie sollen mich draußen treffen. Ich will, dass sie da sind, wenn ich Boreas begrüße. Sobald der König eingetroffen ist, werden sie seine Befehle befolgen, nicht meine.«
Als die Spinnenfrau gegangen war, sah Tarus Grace fragend an, aber sie hob die Hand, bevor er protestieren konnte. »König Boreas ist der Anführer der Krieger von Vathris, nicht ich. Ich bin nur die Vorgruppe. Sie haben tausend Jahre auf diesen Tag gewartet. Das ist ihre Letzte Schlacht. Und Eure, Sir Tarus.«
Sein Grinsen war verschwunden und wurde jetzt von einem schockierten Ausdruck ersetzt. »Ich folge Euch, Euer Majestät.«
Sie berührte seine Schulter. »Vathris ist Euer Gott, Sir Tarus. Ich bin nur eine Frau.«
»Nein«, sagte er ernst. »Ihr seid mehr als eine Frau.«
Plötzlich hatte Grace Angst vor dem, was er möglicherweise noch sagen würde, also schob sie sich an ihm vorbei. »Kommt, Sir Tarus. Begrüßen wir unsere Rettung.«
Ein bitterkalter Wind wehte das Tal hinauf, und Grace musste den Umhang festhalten, als sie zwischen den beiden Unterkunftsflügeln über den Hof eilten.
»Ich sehe sie nicht«, sagte sie am Festungstor. Die Luft war dunkel.
»Vielleicht haben sich die Spinnenfrauen geirrt«, sagte Sir Vedarr. Der ergraute Ritter hatte mit mehreren Embarranern am Tor Wache gestanden. »Vielleicht hat eine Zauberei des Feindes ihre Augen getäuscht.«
Aber in diesem Moment raste wieder eine Böe den Hohlweg hinauf, und plötzlich klaffte eine an den Rändern zerfetzte Lücke in der Wolkenschicht auf – zum ersten Mal, seit sich das Runentor geöffnet hatte. Jenseits des Spalts erschien ein Splitter blauen Himmels, und ein goldener Sonnenstrahl fiel in die Tiefe.
Also war draußen in der Welt später Nachmittag; noch hatte sich die Nacht nicht über das Land gesenkt. Und vielleicht würde sie das auch nicht, denn genau wie Samatha gesagt hatte, marschierte ein Heer das Tal hinauf auf die Festung zu. Das Sonnenlicht funkelte fünftausend grellen Funken gleich auf Brustharnischen und Helmen.
Signalhörner erschollen und ließen Grace erzittern. Banner entfalteten sich im Wind, und die höchsten von ihnen befanden sich an der Spitze des Heeres. Das eine zeigte einen blutroten Stier auf weißem Hintergrund, das andere zwei gekreuzte Schwerter über einer Krone: das Wappen von Calavan. Aber das Wappen war anders, als Grace in Erinnerung hatte. Die Krone hatte sieben Spitzen, nicht neun. Wollte der König die beiden Türme nicht wieder aufbauen, die eingestürzt waren?
Das konnte sie ihn später fragen. Plötzlich wollte sie nichts anderes, als König Boreas' wildes, vertrautes, ansehnliches Gesicht zu sehen. Vermutlich war es nicht besonders königinnenhaft, aber Grace hob den Saum ihres Kleides und eilte durch das Tor. Zwei andere standen bereits auf dem felsigen Abhang außerhalb der Festung – die Hexen Lursa und Senrael. Grace sah sie fragend an.
»Wir wollten Sintarensaftsammeln«, sagte Lursa. »Er hilft dabei, Blutungen zu stoppen, wenn man ihn auf einen Verband tut. Dann schaute ich auf und sah sie kommen.
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