Die Letzte Spur
die Einfahrt ihres Hauses, kramte ihren Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose. Die große Frage war nun, was sie mit dem Rest des Tages anfing. Erst einmal duschen, dann einen schönen, heißen Kaffee trinken. Vielleicht gönnte sie sich ein weiches Ei zum Frühstück und ein paar Scheiben Toastbrot. Nein, höchstens eine Scheibe. Es musste endlich mit dem Abnehmen vorangehen.
Und dann? Dann war der Tag immer noch sehr lang. Sie las gerade in einem spannenden Buch, aber wollte sie diesen herrlichen Vorfrühlingstag lesend daheim verbringen? Das war das Teuflische an der helleren Jahreszeit, sie führte einem die eigene Einsamkeit noch viel deutlicher vor Augen. Im Winter konnte man es sich in einem kuscheligen Sessel vor dem Kamin gemütlich machen und sich dabei durchaus wohl fühlen. Im Frühjahr musste man hinaus, irgendwie durch lange, helle Tage kommen und überall Familien und Liebespaaren begegnen.
Sie hatte ein paar grundlegende Fehler in ihrem Leben begangen, wie sie fand, aber woher hätte sie in jungen Jahren wissen sollen, wie sich die Dinge entwickelten? Rückblickend konnte man leicht erkennen, an welcher Kreuzung man die andere Abzweigung hätte nehmen sollen. Stand man direkt davor, war es bei weitem nicht so einfach.
Sie änderte ihren Plan, gleich ins Haus zu gehen, und wandte sich stattdessen in Richtung Garage. Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie nach dem Frühstück zu einer Radtour aufbrechen würde. Das bedeutete, dass sie nicht einsam im Haus sitzen musste, und ihrer Zielsetzung, demnächst eine Traumfigur zu haben, würde das ebenfalls entgegenkommen. Sie hatte ihr Rad den ganzen Winter über nicht benutzt und hoffte, dass es in einem fahrtauglichen Zustand war. Sie würde das gleich überprüfen.
Die Garage war ungewöhnlich geräumig, eigentlich für die Unterbringung von zwei Autos vorgesehen, aber da Marina nur ein Auto hatte, war der übrige Platz mit jeder Menge nützlicher und unnützer Gerätschaften zugestellt. Die Gartenmöbel stapelten sich hier, ebenso waren Rasenmäher, Terrakottatöpfe, Hacke und Spaten untergebracht. Aber auch ein altes Sofa, eine kaputte Waschmaschine, zusammengerollte Teppiche, mehrere prall gefüllte Altkleidersäcke, Umzugskartons und bergeweise Zeitschriften hatten ihren Weg hierher gefunden.
Die Glühbirne an der Decke war schon lange kaputt, aber es drang ein wenig Tageslicht durch das kleine Fenster an der Gartenseite herein. Die Tür zur Garage war nie verschlossen. Marina kämpfte sich durch das Gerümpel bis zu ihrem Fahrrad, das zumindest auf den ersten Blick recht ordentlich aussah. Daneben stand sogar noch Kens altes Rad. Wieso hatte er es eigentlich nicht mitgenommen? Wahrscheinlich fuhr er Tandem mit seiner hübschen neuen Frau. Sicher bevorzugten beide auch beim Sport größtmögliche Nähe.
Sie kniete nieder, begutachtete die Reifen. Sie schienen genug Luft zu enthalten und in gutem Zustand zu sein. Sie konnte kilometerweit fahren. Heute Abend würde ihr dann alles weh tun, aber sie würde sich dafür sehr heldenhaft fühlen.
Sie richtete sich auf, und ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein in der Garage war. Sie hätte nicht erklären können, weshalb diese Empfindung so jäh in ihr erwachte, denn weder hatte sie ein Geräusch gehört noch einen Schatten wahrgenommen. Da war kein Atmen, nichts.
Und doch fühlte sie Augen auf sich gerichtet, und alle Härchen an ihren Armen sträubten sich.
Sie fuhr herum, wünschte, sie könnte in dem Dämmerlicht besser sehen.
»Ist da jemand?«, rief sie.
Es kam keine Antwort.
»Hallo?«, wiederholte sie.
Jeder konnte hier herein. Aber was sollte ein Mensch in diesem Chaos aus größtenteils wertlosen Gegenständen suchen? Das Auto war abgeschlossen. Klaute heutzutage noch ernsthaft irgendjemand ein Fahrrad, es sei denn, er fand es praktisch auf dem Präsentierteller vor?
Alles blieb still, nichts bewegte sich.
Vielleicht geht es nicht darum, etwas zu stehlen, vielleicht hat es jemand auf mich abgesehen?
»Quatsch!«, sagte sie laut. Wer vergewaltigte eine fast vierzigjährige, vollschlanke Steuerberaterin? Es wäre wirklich ein schlechter Witz, wenn sie, nachdem ihr seit Jahren kein männliches Wesen trotz aller Bemühungen ihrerseits auch nur einen zweiten Blick geschenkt hatte, plötzlich Opfer eines Triebtäters würde. In ihrer eigenen Garage.
Ihr Herz, das, wie sie plötzlich merkte, rasend zu pochen angefangen hatte, beruhigte sich wieder. Die Gänsehaut
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