Die Letzte Spur
bekennen, »sie war nicht sehr gesprächig. Ich habe oft versucht, mit ihr zu reden, verstehen Sie, ein bisschen für sie da zu sein! So ein junges, verängstigtes Ding! Und so einsam. Die hatte ja niemanden! Keine Freunde, keine Bekannten, niemanden! Als ob sie ganz allein auf der Welt wäre. In den zwei Jahren gab es nicht einen Mann, mit dem sie auch nur ausgegangen wäre. Das ist doch nicht gesund! Ich meine, eine Frau in diesem Alter möchte doch heiraten, eine Familie gründen, ein Nest bauen! Und sich nicht in einem kleinen Dorf verstecken und mit niemandem in Kontakt treten!«
»Eine Frau in diesem Alter«, sagte Rosanna. »Wie alt ist Miss Dawson denn?«
»Ich schätze, so Ende zwanzig.«
Marc und Rosanna sahen einander an. Das konnte hinkommen.
»In Ordnung«, sagte Rosanna ergeben, »dann warten wir also, bis sie nach Hause kommt. Vielleicht setzen wir uns draußen ins Auto, Marc? Wir sollten Mr. Cadwick nicht so lange zur Last fallen.« Sie empfand einen solchen Widerwillen gegen den alten Mann und dessen verstaubte Wohnung, dass sie meinte, es kaum noch in dem überhitzten Wohnzimmer auszuhalten.
»Sie fallen mir durchaus nicht zur Last«, versicherte Mr. Cadwick eilig, »wirklich nicht, bleiben Sie doch hier! Ich habe gern einmal Besuch. Sehen Sie, ich fühle mich oft recht einsam. Das war auch der Grund, weshalb ich das Apartment vermietet habe. Das Geld brauche ich eigentlich nicht, ich komme gut zurecht mit meiner Rente, aber das Alleinsein … das schmerzt doch oft sehr. Ist nicht leicht auszuhalten. Da dachte ich, ein Untermieter wäre eine gute Idee. Man könnte mal zusammen Tee trinken oder plaudern oder einen Spaziergang machen. Leider war Miss Dawson so menschenscheu, dass ich mich regelrecht auf die Lauer legen musste, um sie überhaupt mal zu Gesicht zu bekommen. Eine sehr, sehr seltsame Person. Muss irgendein Geheimnis in ihrer Vergangenheit geben …« Er kaute auf seiner Unterlippe herum. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. Rosanna hatte den Eindruck, dass er noch irgendetwas loswerden wollte und nicht recht wusste, wie er es anstellen sollte.
»Mr. Cadwick …«, begann sie.
Er unterbrach sie. »Wie ich sagte, eine sehr, sehr seltsame Person. Fast denke ich, sie ist nicht mehr ganz normal im Kopf. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb sie…«
»Weshalb sie was?«, fragte Marc.
Mr. Cadwick gab sich spürbar einen Ruck. »Sie ist offenbar bei mir ausgezogen. Vor zwei Tagen. Am Donnerstag.«
»Was heißt offenbar ?«, fragte Marc mit scharfer Stimme.
Cadwick wirkte nun recht kläglich. »Ich will damit sagen, dass sie nicht gekündigt hat oder so. Oder sich verabschiedet hat. Sie ist einfach verschwunden.«
»Aber so einfach verschwindet doch niemand«, sagte Rosanna, »ich meine, wenn jemand auszieht, dann kommt ein Möbelwagen, dann schleppt er eine Menge Gegenstände davon … Sie hätten das doch mitbekommen müssen!«
»Sie besitzt ja nichts«, sagte Cadwick, »nur einen Koffer mit ihren Kleidungsstücken. Damit, mit sonst nichts, ist sie ja auch hier eingezogen. Ich vermiete das Apartment möbliert. Bis hin zu den Eierbechern ist alles da. Ich vermute, sie hat am Donnerstag die halbe Stunde, in der ich einkaufen war, genutzt, um zu verschwinden. Denn danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Marcs Gesicht war starr, als er sagte: »Dann sollten wir rasch das Pub aufsuchen, in dem sie arbeitet. Vielleicht …«
»Dort hat sie sich auch nicht mehr blicken lassen«, sagte Cadwick, ohne seine beiden Gäste anzusehen, »da habe ich am Donnerstagabend und noch mal gestern Abend, zwei Stunden vor dieser Fernsehsendung, nach ihr gefragt. Justin McDrummond, der Besitzer vom Elephant , war ganz schön sauer. Erst hat er gedacht, sie ist krank, als sie nicht erschienen ist, und sie hätte vergessen, anzurufen und sich zu entschuldigen, aber als ich dann mit der Nachricht kam, dass sie sich irgendwie in Luft aufgelöst hat … na ja, da musste er annehmen, sie hat es mit ihm genauso gemacht. Ist abgehauen und hat nichts gesagt.«
»Sie meinen also, sie ist überhaupt nicht mehr in Langbury?«, fragte Rosanna. »Und diesen Umstand erwähnen Sie mit keinem Wort in unserem Telefonat? Wir fahren diese ganze verdammte Strecke hier herauf wegen … wegen nichts?« Sie hätte nicht sagen können, wie enttäuscht sie war. Und wie wütend.
»Immerhin, bis vorgestern war sie noch hier«, meinte Marc beschwichtigend, »und vielleicht ist sie gar nicht weit weg. Sind Sie sicher,
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