Die Letzte Spur
problemlos erreichbar sind!«
Er hatte stets abgelehnt. Hatte die hilfsbereiten Geister oft genug sogar angeschnauzt. Für wen, bitte schön, er denn erreichbar sein solle? Wer rief ihn denn an? Wer interessierte sich denn noch für ihn? Er existierte doch praktisch schon nicht mehr.
Dumm gelaufen, dachte er nun.
Zum Glück war es Sonntag. Sämtliche Aktivitäten im Pflegeheim liefen sonntags in reduzierter Form ab, was bedeutete, dass auf dem Gang nicht das übliche Gewusel von Patienten und Pflegekräften herrschte. Es bestand daher die Chance, ungestört zu telefonieren. Wobei sich dies natürlich jeden Moment ändern konnte. Geoff wusste, dass ihm nur ein kleines, noch dazu nicht berechenbares Zeitfenster blieb.
Es war einfach gewesen, über die Auskunft die Nummer des Fernsehsenders herauszubekommen, der die Sendung Private Talk ausstrahlte; schwieriger gestaltete es sich, mit der betreffenden Redaktion sprechen zu können. Eine missmutige Frauenstimme in der Zentrale hatte ihm mitgeteilt, sie versuche, ihn zu verbinden, aber seitdem hing Geoff in einer Warteschleife und lauschte, zunehmend genervt, den Klängen irgendeines ihm unbekannten Klavierstücks. Das war der Nachteil an einem Sonntag: Auch in einem Sender herrschte nicht umtriebige Geschäftigkeit wie sonst. Immerhin mussten die Beschäftigten dort auch an den Wochenenden ihren Dienst tun. Ob Lee Pearce da war? Mit ihr hätte Geoff am liebsten gesprochen.
Die ganze Nacht über hatte er wach gelegen und überlegt, was er tun sollte. Cedrics Nachricht vom Auftauchen einer möglichen neuen Spur hatte ihn von Stunde zu Stunde in größere Unruhe, Aufregung und Angst versetzt. Tausend Gefühle stritten in ihm: die Hoffnung, Elaine könnte tatsächlich am Leben sein, zu ihm zurückkehren und ihn damit erlösen. Die Sorge, sie könnte zwar am Leben sein, sich jedoch weigern, zurückzukommen, und zudem erklären, ihr Bruder sei es, vor dem sie sich all die Jahre versteckt gehalten habe. Gleich darauf war ein neuer Gedanke in ihm erwacht: Was, wenn sie es nicht war, Rosanna Hamilton, die falsche Schlange, jedoch behaupten würde, sie habe sie dort oben in Northumberland angetroffen? Seitdem Geoff die einstige Jugendfreundin in der Talkshow gesehen hatte, wusste er zwei Dinge: Rosanna war scharf auf Marc Reeve, hatte womöglich bereits ein Verhältnis mit ihm. Und aus diesem Umstand wiederum ergab sich ihr Verhalten: Rosanna wollte Reeve von jeglichem Verdacht im Hinblick auf Elaine reinwaschen. Um jeden Preis. Geoff traute es ihr absolut zu, dass sie eine lebende Elaine erfand, dies in ihrem schäbigen Boulevardblatt großartig verkündete und damit Marc Reeve ein Leben in Ansehen und Rehabilitierung ermöglichte. Wer würde ihre Angaben schon überprüfen? Die Polizei hatte den Fall längst zu den Akten gelegt, längst abgehakt.
»Was glauben Sie, wie viele Frauen und Männer sich tagtäglich einfach aus ihrem Leben verabschieden, untertauchen und fröhlich eine neue Existenz gründen?«, hatte ihm einer der Beamten damals, unmittelbar nach Elaines Verschwinden, gesagt. »Sogar Leute, die Familien haben, Kinder. Leute, in deren Leben es scheinbar überhaupt keine Schwierigkeiten gibt, von denen man es nie erwartet hätte. Tief in ihrem Innern aber hatten sie alles satt, die Verantwortung, die Bindung, was auch immer. Und weg sind sie. Und in ihrem ganzen Umfeld ist man fassungslos.«
In seinem, Geoffs, Umfeld war man nicht einmal wirklich fassungslos gewesen, das war das Schlimme. Man hatte ihm das nicht so deutlich gesagt, aber er war nicht blöd, er hatte es überall zwischen den Zeilen herausgehört: Jeder konnte sich durchaus vorstellen, dass Elaine aus dem Dasein an der Seite eines Krüppels, der ihr Leben blockierte, ausgebrochen war. Und jeder hatte es verstanden. Wäre nicht die Geschichte mit Marc Reeve ans Tageslicht gekommen und damit zumindest kurzfristig ein Verbrechen in Betracht gezogen worden – niemand hätte auch nur einen Finger krumm gemacht, um die vom Erdboden verschluckte Frau wieder aufzustöbern.
Ja, und auch er selbst konnte schwerlich in den Norden reisen und nachsehen, ob es sich wirklich um Elaine handelte, die sich dort vor ihm versteckt hielt. Selten hatte er seine Hilflosigkeit mehr verwünscht, die Unbeweglichkeit seines Körpers mehr verflucht. Zunehmend war der Hass auf seinen Körper während der endlos langen, durchwachten Nachtstunden übergegangen in einen überwältigenden Hass auf Rosanna Hamilton, die ihn
Weitere Kostenlose Bücher