Die Letzte Spur
noch mehr«, sagte Geoff hastig. Er hörte Schritte den Gang entlangkommen und sah sich verstohlen um. Ganz hinten war eine Schwester aufgetaucht, verharrte jedoch an einer der geöffneten Zimmertüren und sprach augenscheinlich mit einem der Bewohner. Bald würde sie jedoch weitergehen und hoffentlich nicht auf seiner Höhe erneut stehen bleiben.
Scheiße! Konnte ihn diese Kuh nicht endlich verbinden?
»Hören Sie«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich habe Grund zu der Annahme, dass Mrs. Hamilton, die am Freitag bei Ihnen zu Gast war, in dieser Angelegenheit etwas zu vertuschen sucht. Wegen sehr pikanter persönlicher Verstrickungen …« Er hielt inne. Private Talk war eine höchst primitive Boulevard-Talkshow. Er hoffte, dass er seine Gesprächspartnerin ein wenig heißgemacht hatte.
Sie seufzte erneut, diesmal aber gab sie sich keine Mühe, es zu verbergen. »Ich werde Mrs. Pearce fragen, falls sie überhaupt gerade zu sprechen ist«, sagte sie, »möglicherweise ist sie auch in einer Konferenz. Warten Sie!«
Er wurde aus der Leitung geklickt und sah sich wieder der penetranten Klaviermusik ausgesetzt.
Die Schwester kam jetzt näher, mit jenem forschen, eiligen, so überaus viel Wichtigkeit signalisierenden Gang, den er hasste, mit dem er hier jedoch ständig konfrontiert wurde.
Haben die mal darüber nachgedacht, wie ihre Gangart auf uns Krüppel wirkt?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Wollen sie uns ihre Überlegenheit demonstrieren, uns ständig deutlich machen, dass sie die Stärkeren sind? Oder setzt diese Vorstellung eine Auseinandersetzung mit uns voraus, die es gar nicht gibt? Sind wir ihnen in Wahrheit scheißegal, und sie machen einfach ihren Job und denken über gar nichts nach?
Die Schwester war auf seiner Höhe angekommen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, was er abartig fand.
»Na, Mr. Dawson?« Sie war munter wie ein Fisch im Wasser. Hatten heute alle Leute eine so scheißgute Laune? Vor allem die, die am Sonntag arbeiten mussten? »Wie geht's Ihnen denn?«
Er nickte ihr abweisend zu. Sah sie eigentlich nicht, dass er telefonierte? Hätte sie sich einem Nicht-Patienten gegenüber auch so verhalten? Ohne Respekt davor, dass er gerade mit etwas anderem beschäftigt war?
Sie setzte zu ihrer nächsten Frage an, aber in diesem Moment ertönte das bereits bekannte Klicken an Geoffs Ohr. »Mr. Dawson? Ich verbinde Sie mit Mrs. Pearce.«
Gleich darauf erklang ein kühles: »Pearce. Was gibt es?«
Er hielt seine Hand auf die Sprechmuschel, wandte sich, soweit sein gelähmter Körper es zuließ, zu der ihn unverwandt angrinsenden Schwester um und zischte leise, aber deutlich: »Scheren Sie sich zum Teufel, verdammt noch mal!«
4
Sie waren ziellos ein wenig in der Gegend herumgefahren, hatten den Wagen dann in einer kleinen Parkbucht unweit vom Meer abgestellt und waren zum Strand gelaufen. Außer dem Heranrollen der Wellen und den Schreien der Möwen war nichts zu hören. Trotz des strahlenden Frühlingstages wehte hier am Wasser ein scharfer Wind, der eiskalt durch die Kleidung drang. Sie liefen mit schnellen Schritten über den Sand, um sich aufzuwärmen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Rosanna, »ich meine, der Begriff Todesangst – der erscheint mir so … überzogen. Wir sind davon ausgegangen, dass sich Elaine vor dem Leben als Pflegerin ihres Bruders in Sicherheit bringen wollte, und ganz bestimmt wäre sie alles andere als begeistert gewesen, wenn er plötzlich in der Tür dieses Pubs aufgetaucht wäre, aber es hätte sie doch kaum mit Todesangst erfüllt. Was hätte er ihr schon anhaben können?«
Marc bückte sich, hob einen flachen, kleinen Stein auf und warf ihn dann achtlos wieder zu Boden. »Vielleicht liegen wir mit der Vermutung, dass ihr Verschwinden – sofern wir nach wie vor von einem freiwilligen Verschwinden ausgehen – etwas mit ihrem Bruder zu tun hat, völlig falsch. Immerhin hat sie bei mir einen Mann erwähnt, der eine wesentliche Rolle in ihrem Leben spielte. Könnte es sein, dass mit dem etwas schiefgelaufen ist? Dass sie sich vor ihm versteckt?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Elaine auf einen windigen Typen einlässt, der später zur Gefahr wird«, meinte Rosanna und sah wieder den pickligen Teenager vor sich, der vor allem und jedem Angst hatte und sich nie an Unternehmungen beteiligte, die auch nur einen Anflug von Risiko bargen. »Sie war übertrieben vorsichtig. Extrem
Weitere Kostenlose Bücher