Die Letzte Spur
Nur die Stehlampe in der Ecke brannte dort und verbreitete ein schwaches, diffuses Licht.
Auf dem Sofa saß eine Frau. Sie trug einen dicken Parka, Schal und Handschuhe, so als sitze sie nicht seit bald zwei Stunden in dem Zimmer, sondern wolle jeden Augenblick wieder gehen – was ja auch den Tatsachen entsprach. Sie wandte den Kopf, als Marc und Rosanna ins Zimmer kamen, aber sie sagte nichts, sprang auch nicht auf. Sie sah die beiden nur an. Rosanna erkannte keine Wut in ihren Augen. Keinen Zorn, nicht einmal einen Funken von Ärger oder wenigstens Verwirrung. Da war nur Resignation. Ergebenheit. Vor ihnen saß ein Mensch, zusammengekauert und still, dem nur eines noch wirklich wichtig schien: kein Aufsehen zu erregen, so unauffällig und unbemerkt wie nur möglich durch das Leben zu gehen. Die Frau harte Angst, aber auch ihre Angst hatte ein Stadium erreicht, in dem kein Kampfeswillen mehr vorhanden war. Die Angst war längst ein Bestandteil von ihr geworden, so wenig abzulegen wie Arme oder Beine, Mund oder Nase. Die Angst flackerte nicht mehr. Sie hatte sich eingegraben und verwoben.
Und noch etwas erkannte Rosanna sofort: Bei dieser Frau handelte es sich nicht um Elaine Dawson.
8
»Ich muss deinen Vater anrufen«, sagte Marina, »er wird außer sich sein vor Sorge. Du verstehst das sicher?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Muss das sein?«, fragte er mit unglücklicher Stimme.
Sie hatte immer noch weiche Knie und zittrige Hände. Hätte ein echter Einbrecher dort oben in ihrem Zimmer gestanden, sie hätte kaum fassungsloser und entgeisterter reagieren können.
Ihr Sohn. Robert. Der Junge, den sie zuletzt gesehen hatte, als er vier Wochen alt gewesen war – ein rosiges, weiches Baby mit einem feinen Flaum von Haaren auf dem Kopf. Ein unschuldiges Wesen, das sie nicht ärgern wollte, das aber ständig schrie, wenig schlief und immerzu Hunger hatte. Das eine ganze Skala von Panikgefühlen in ihr ausgelöst und sie in tagelange, hysterische Tränenausbrüche gestürzt hatte.
Sie saßen im Wohnzimmer. Robert hatte das Feuer im Kamin entzündet, während Marina drei große Butterbrote für ihn schmierte und Kakao kochte.
Ist Kakao für einen Sechzehnjährigen überhaupt richtig?, fragte sie sich, als sie in der Küche stand, zwischendurch ihren Weißwein hinunterkippte, um ihre Nerven unter Kontrolle zu bekommen, und merkte, dass ihre bebenden Finger kaum das Brotmesser halten konnten. Vielleicht sollte ich ihm auch einen Wein anbieten? Nein, keinen Alkohol. Was trinken die jungen Leute? Cola. Aber Cola habe ich nicht im Haus.
Letztlich hatte sich der Kakao als durchaus richtig erwiesen. Robert stürzte ihn hinunter und machte sich dann halb verhungert über die Brote her.
»Meine Güte«, sagte sie, während sie ihn dabei beobachtete, »warum hast du dir im Lauf des Tages nichts aus dem Kühlschrank geholt? Du hast wohl längere Zeit nichts gegessen?«
Er schüttelte den Kopf. »Seit gestern Mittag nicht. Aber ich wollte dich nicht beklauen.«
Ich bin aber doch deine Mutter, hätte sie beinahe gesagt, aber der Satz kam ihr schrecklich falsch vor. Wie sollte Robert sie denn als Mutter empfinden? Sie empfand sich ja selbst nicht so. Im Grunde waren sie zwei Fremde, die zusammen in einem Wohnzimmer saßen und nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde.
Sie betrachtete ihn verstohlen. Er sah Dennis recht ähnlich, zeigte sogar bestimmte Bewegungen, die sie an ihre Jugendliebe aus lang vergangenen Tagen erinnerten. Von sich selbst konnte sie nichts an ihm entdecken. Er war hübsch. Hoch aufgeschossen. Wirkte sportlich. Aber auch sehr sensibel. Scheu.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie. Es gab keinerlei Kontakt mehr zwischen ihr und Dennis, seit Jahren schon nicht mehr.
Er sah auf. »Vor ein paar Jahren habe ich mal deine Adresse auf Daddys Schreibtisch gesehen«, erklärte er, »und ich habe sie mir abgeschrieben. Einfach nur so. Und jetzt habe ich gedacht, ich schaue dort mal nach. Ich dachte, vielleicht habe ich Glück und du wohnst noch hier.«
Sie entsann sich dunkel, dass sie Dennis ihre Anschrift mitgeteilt hatte, nachdem sie Ken geheiratet hatte und in dieses Haus gezogen war. Es musste acht Jahre her sein. Kurz und bündig hatte sie ihm geschrieben, sie habe geheiratet und wohne nun unter der angegebenen Adresse. Später hatte sie sich gefragt, weshalb sie ihm das überhaupt mitteilte. Sie wollte nichts von ihm. Als Robert drei Jahre alt war, hatte er ihr zu
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