Die Letzte Spur
Gott, das habe ich! Ich habe alles versucht. Ich habe ihm Briefe geschrieben. Ich habe ihn einmal sogar vor seiner Schule abgefangen. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen. Er blockte alles ab. Ich kam nicht an ihn heran.«
»Aber warum? Marc, warum? Wie kann ein Sohn seinen Vater so sehr ablehnen?«
Wieder stützte er den Kopf in die Hände. Er sah müde aus und älter als sonst. »Es kam manches zusammen. Ich glaube, ich habe ihn zu oft enttäuscht. Ich habe ihn abgöttisch geliebt, aber ich habe nie begriffen, dass ein Kind Liebe auch in Form von Zeit spüren muss, die man ihm schenkt. Ich war ein Vater, der meist durch Abwesenheit glänzte. Das wäre vielleicht nicht das Schlimmste gewesen, aber ich habe zu oft etwas getan, was man gerade bei Kindern nicht tun sollte: Ich habe Zusagen nicht eingehalten. Ich habe ihm irgendwelche Aktivitäten für das Wochenende in Aussicht gestellt, dann kam etwas Berufliches dazwischen, und die Sache wurde abgeblasen. Einfach so. Ich habe ihm nicht einmal viel dazu erklärt. Ich fand es normal, dass meine Arbeit Priorität hatte, schließlich ernährte ich damit die Familie. Ich dachte, Josh begreift das, ihm ist klar, dass es nicht anders funktionieren kann. Tatsache ist aber, dass er wohl sehr oft geweint hat. Sich verletzt und zurückgestoßen gefühlt hat. Und ich habe es nicht einmal registriert.« »Und …«
»Und zudem hatte er mitbekommen, wie oft seine Mutter meinetwegen weinte.« »Weshalb weinte sie?«
Er zögerte. »Sie war viel allein. Vielleicht hat sie das dazu verleitet, sich … Dinge einzubilden. Von irgendeinem Moment unserer Ehe an war sie nicht mehr bereit, mir zu glauben, dass es nur meine Arbeit war, die mich ständig von meiner Familie fernhielt. Zunächst kam es nur hin und wieder vor, dass sie mir unterstellte, ich hätte irgendetwas mit einer Kollegin oder einer Mandantin, und sie ließ sich davon durch gutes Zureden wieder abbringen. Aber mit der Zeit steigerte sie sich immer mehr in diese Gedankengänge hinein. Es wurde fast zu einer Besessenheit. Sie behauptete, dass ich jungen, attraktiven Frauen auf der Straße hinterherschaute und dass ich auf Partys hemmungslos flirtete, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen. Wir hatten nur noch Krach deswegen. Sie konnte völlig ausrasten. Sie warf mit Gegenständen um sich, tobte und schrie. Zum Schluss steigerte sie sich in hysterische Weinkrämpfe und flüchtete zu Josh, um sich bei ihm auszuheulen. Ich fand es katastrophal, was sie dem Jungen damit antat, aber ich war völlig hilflos.«
»Und sie lag mit ihrem Verdacht jedes Mal völlig daneben?«, fragte Rosanna. Sie musste an Marcs einstigen Nachbarn denken. Jacqueline war nicht die Einzige gewesen, die Marc für einen Ehebrecher gehalten hatte.
»Ganz ehrlich, Rosanna, ich habe dermaßen viel gearbeitet zu dieser Zeit, ich hätte gar nicht die Kraft gehabt, mit einer anderen Frau etwas anzufangen. Ich war besessen von meinem Beruf. Rasend ehrgeizig. Entschlossen, es ganz nach oben zu schaffen. Darunter musste meine Familie leiden, und das kann man mir sicher auch vorwerfen. Aber ich habe Jacqueline nie betrogen.«
Sie ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer gleiten. »In deiner ganzen Wohnung gibt es nicht ein einziges Bild von deinem Sohn«, sagte sie leise.
Er nickte. »Ich könnte es nicht ertragen.«
»Du erträgst nicht einmal deine alten Möbel, oder?«
»Nein. Ich habe dieses Apartment hier möbliert gemietet. Es geht mir damit besser.«
»Wann hast du Josh zuletzt gesehen?«
»Das war nach der Geschichte mit Elaine. Die Zeitungen hatten über mich berichtet. Ich passte Josh vor seiner Schule ab. Ich wollte ihm erklären, dass … dass das alles nicht stimmt, was er dort liest. Ich wollte ihm meine Version schildern. Ich konnte mir ja denken, dass diese Sache nun das Fass zum Überlaufen bringt.«
»Er ließ nicht mit sich reden?«, vermutete Rosanna.
»Nicht im Mindesten. Unglücklicherweise kreuzte auch noch Jacqueline auf, die ihn gerade abholen wollte. Es kam zu einer scheußlichen Szene. Josh brüllte, ich solle ihn in Ruhe lassen, und Jacqueline schrie, wie ich es wagen könne, nach allem, was war, hierherzukommen. Andere blieben stehen, einige erkannten mich. Irgendjemand bot an, die Polizei zu rufen… Es war ein einziger Albtraum. Ich begriff, dass nichts mehr ging. Von da an habe ich keinen Versuch mehr unternommen. Von da an herrschte … ja, wie du es gesagt hast: Hoffnungslosigkeit. Ich habe keine Hoffnung mehr, was Josh
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