Die Letzte Spur
betrifft. Ich habe, und vielleicht ist das noch schlimmer, auch keinen Mut mehr.«
»Denkst du viel an ihn?«
»Jeden Tag.«
Zögernd griff sie nach seiner Hand. Er zog sie nicht zurück.
»Warum kämpfst du so darum, dass keiner es merkt?«, fragte sie. »Es macht einsam, wenn man das, was einen am tiefsten bewegt und beschäftigt, völlig in sich verschließt.«
»Ich komme besser klar, wenn ich nicht darüber rede.«
Sie dachte daran, was er gerade über den Brief gesagt hatte. Wie sehr ihn das Wort Leidensgenosse gestört hatte. Wie wenig er überhaupt mit dem Begriff Leiden zurechtkam.
»Ich vermute, für dich hat das alles irgendwie mit verlieren zu tun, stimmt's? Du denkst, dass du …«
Er sah sie an. Jetzt stand Aggression in seinen Augen. »Oh, Rosanna, wie schlau! Du willst sagen, ich fühle mich als Verlierer? Ja, als was denn sonst? Ich habe meine Ehe in den Sand gesetzt. Ich habe die Liebe meines Kindes verspielt. Und als ich einmal in meinem Leben die Rolle des barmherzigen Samariters übernommen habe, wurde ich hinterher als Triebtäter oder sogar Mörder gehandelt. Meinst du nicht, das reicht, um sich wenigstens ein bisschen als Verlierer fühlen zu dürfen?« Er stand abrupt auf, trat ans Fenster, starrte hinaus auf die von Laternen erhellte Straße, die noch immer halb blockiert war durch sein Auto.
»Verdammt«, sagte er wütend, »es geht mir einfach besser, wenn ich nicht darüber rede. Ich frage mich, warum Frauen immer über alles reden müssen !«
Sie erhob sich ebenfalls, irritiert von seinem Stimmungsumschwung. »Ich dachte …«
»Was dachtest du? Dass man in einer Wunde am besten rührt, um sie am Ende etwas weniger schmerzhaft sein zu lassen? Du sagtest, du wolltest mich verstehen lernen. Vielleicht will ich gar nicht verstanden werden. Vielleicht will ich nur meine Ruhe. Ich kann in der Sache mit Josh nichts mehr bewegen, und deshalb ist es für mich am besten, ich denke nicht andauernd darüber nach.«
»Ich verstehe das. Und es tut mir leid, dass ich …« Sie suchte nach Worten. Er sah sie abwartend an.
»Es tut mir leid, dass ich diesen Brief gelesen habe«, sagte sie schließlich. »Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte vielleicht gar nicht hierherkommen sollen.«
Er widersprach nicht, blickte erneut aus dem Fenster.
Die Stimmung hatte sich von einem Moment zum anderen völlig verändert. Rosanna begriff, wie dünn die Fassade der Gelassenheit und Ausgeglichenheit war, die Marc um sich errichtet hatte. Er war ein verletzter Mann, der sich als gescheitert empfand; er war ein zurückgewiesener Vater, der keine Hoffnung mehr hegte, sich je wieder mit seinem Sohn zu versöhnen. Sein Leben ertrug er, indem er sich mit Arbeit betäubte und sich bemühte, jeden Gedanken an seine Vergangenheit auszuschalten. Es war die männliche Art, mit einer Tragödie fertigzuwerden, neun von zehn Männern hätten es ebenso gemacht.
Sie streckte die Hand aus, berührte ihn vorsichtig am Arm. Er wich dieser Berührung sofort aus.
»Ich muss das Auto umparken«, sagte er, wandte sich vom Fenster ab und griff nach dem Autoschlüssel, der auf dem Couchtisch lag. »So kann es nicht bis morgen früh stehen bleiben.«
Er war schon fast an der Wohnungstür, als Rosanna der Angst, die sie plötzlich befiel, nachgab.
»Marc! Nicht! Geh nicht!«
Er blieb stehen. »Ich will nur das Auto parken.«
Sie wusste nicht, woher der jähe Schrecken rührte, noch ob er gerechtfertigt war. Aber etwas sagte ihr, dass sich Marc, saß er erst dort unten in seinem Auto, der ganzen Situation entziehen und womöglich einfach davonfahren würde. In die nächste Kneipe, um dort im Getöse unterzutauchen und für den Rest des Abends in ein Bierglas zu starren. Oder in sein Büro, um sich die ganze Nacht in einem Berg Akten zu vergraben.
»Bitte, geh nicht«, wiederholte sie. Es erschien ihr auf einmal unerträglich, alleine in dieser trostlosen Wohnung zurückzubleiben. Vergeblich auf ihn zu warten. Und am nächsten Tag nach Taunton aufzubrechen, ohne Abschied genommen zu haben, von da an für immer in der Erinnerung an diesen unglücklich verlaufenen Abend gefangen zu sein.
»Ich will nur das Auto parken«, sagte er, nun zum dritten Mal und schon ungeduldig, aber dann schien er auf einmal etwas von der Not zu spüren, mit der sie nach ihm rief, denn er legte den Schlüssel auf die Küchentheke und machte einen Schritt auf Rosanna zu.
»Was ist los?«, fragte er.
Sie erwiderte nichts. Die Spannung, die
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