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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Freundes waren nicht daheim. Wir hatten das ganze Haus für uns. Der Typ hatte Gott und die Welt eingeladen. Wir waren bestimmt fünfzig oder sechzig Gäste.«
    Die Türklingel schrillte.
    Er sprach hastig weiter. »Es war zwei Tage vor Weihnachten. Es hatte nicht geschneit, aber die Nacht war sehr frostig. Eiskalt. Wir tranken Ströme von Alkohol. Die Musik dröhnte. Wir fanden … dass wir nie eine tollere Party erlebt hätten.«
    »Ich verstehe«, sagte Pam.
    »Ich, Geoff und ein paar andere standen irgendwann auf dem Balkon im ersten Stock des Hauses. Es war gegen vier Uhr morgens. Wir waren ziemlich zugedröhnt. Irgendjemand kam auf die Idee, wir könnten auf dem Balkongeländer balancieren.«
    Es klingelte ein zweites Mal an der Tür.
    »Das Schlimme ist, niemand wusste nachher genau, wer diesen total idiotischen Einfall eigentlich gehabt hatte. Wie gesagt, wir waren sternhagelvoll. Geoff hat später immer behauptet, dass ich es gewesen sei. Ich kann das weder bestätigen noch abstreiten, ich weiß es ganz einfach nicht.« Er hielt inne.
    »Immer zwei von uns kletterten also hinauf und versuchten aneinander vorbeizubalancieren und die andere Seite zu erreichen. Das Geländer war sehr breit. Aber es war auch ziemlich glatt. Mit Raureif überzogen, wie man uns später sagte. Aber auch das merkten wir nicht.«
    »Ich verstehe«, sagte Pam noch einmal.
    Er merkte, wie sich etwas bewegte in ihm. Die ganze hilflose Verzweiflung, die er seit jener Nacht in sich trug, die er tief in sich vergraben hatte, irgendwo so weit unten, dass er sie nicht sehen und nicht fühlen konnte. Etwas davon schwappte nach oben, verursachte ein würgendes Gefühl im Hals.
    »Alles war gut gegangen. Geoff und ich kamen zuletzt an die Reihe. Wir balancierten aufeinander zu …«
    Er sah die Szene vor sich. Den dunklen, hohen Himmel voller Sterne. Das Haus mit den vielen hell erleuchteten Fenstern. Die Gesichter derer, die zusahen. Geoffrey, der sich auf ihn zubewegte, schwankend, betrunken. Er selbst, mit den Armen rudernd, um das Gleichgewicht zu halten. Sie trafen ziemlich genau in der Mitte des Balkons aufeinander.
    »Wir versuchten uns umeinander herumzuquetschen. Irgendwie … gerieten wir beide dabei ins Straucheln. Wir fanden das Gleichgewicht nicht mehr, aber ich glaube, wir erschraken deshalb nicht einmal, wir sahen die Gefahr überhaupt nicht.«
    Seine Augen brannten. Er hörte Geoffrey rufen: Ich fliege gleich!
    Es klingelte ein drittes Mal an der Tür, gleichzeitig wurde geklopft.
    »Wir rutschten beide im selben Moment ab. Es ging so schnell, viel zu schnell, als dass wir noch etwas hätten steuern können. Was dann passierte, war Schicksal, es lag nicht daran, dass einer von uns sportlicher oder cleverer oder vorausschauender gewesen wäre. Es war einfach Schicksal.«
    Sie wusste, was passiert war. »Du stürztest auf die Innenseite des Balkons«, sagte sie, »und dein Freund … auf die andere Seite.«
    »Er stürzte nicht nur ein Stockwerk tief«, sagte Ced-ric. Seine Stimme klang, für ihn selbst wahrnehmbar, seltsam monoton. »Unterhalb des Balkons befand sich ein Schwimmbecken. Zehn mal zehn Meter, Beton. Es war, im Dezember, natürlich leer.«
    Der Satz, mit der ganzen Dimension, die sich in der Konsequenz seiner Aussage ergab, klang im Zimmer nach. Es war, im Dezember, natürlich leer.
    Er war dankbar, dass Pam nichts sagte. Früher, als er noch Kontakt mit den Leuten gehabt hatte, die Zeugen des Unglücks gewesen waren, waren immer Sätze gefallen wie:
    Du konntest nichts dafür. Niemand weiß, wer diese blöde Idee hatte. Alle, die bei dem Scheiß mitgemacht haben, waren gleichermaßen schuldig oder unschuldig. Oder: Geoffrey war kein kleines Kind. Er hat sich auf eine Gefahr eingelassen. Niemand hat ihn gezwungen. Er ist selbst verantwortlich für sein Schicksal.
    Er mochte das nicht mehr hören. Unabhängig davon, ob es richtig war oder nicht, er mochte es einfach nicht mehr hören.
    »Wir müssen die Tür öffnen«, sagte er, »die Polizei stürmt sonst noch das Haus.«
    Sie nickte. Und dann umarmte sie ihn, vorsichtig, sehr zart, in einer Geste wortlosen Verstehens.
    Ehe sie zur Haustür ging und den beiden Beamten öffnete, die sie nach London zu Scotland Yard bringen würden.
     
    3
     
    Marina fand Rob, als sie schon aufgeben und nach Hause fahren wollte. Sie hatte die ganze Siedlung in sich erweiternden Kreisen abgesucht, in Gärten gespäht, Bushaltestellen angefahren, war sogar ein paar Mal ausgestiegen und

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