Die Letzte Spur
viele seltsame Verhaltensweisen von Menschen gab es überraschend harmlose Erklärungen, schaute man erst einmal hinter die Fassade. Vielleicht war die Einzige, die eine völlig absurde Theorie anbot, sie selbst.
»Ist es in Ordnung, wenn wir wieder umkehren?«, fragte Marc. »Es wäre mir ganz lieb, wenn wir das Schiff wieder im Club und dort festgemacht hätten, ehe irgendjemand auftaucht. Ich glaube wirklich nicht, dass wir uns allzu leicht aus dieser Geschichte würden herausreden können.«
Sie wusste, dass er recht hatte. Es hatte keinen Sinn, noch länger auf dem Fluss zu verweilen. Die Erleuchtung kam nicht. Das Unbehagen blieb, aber ob es berechtigt war oder nicht, hätte sie auch jetzt nicht zu sagen vermocht.
»Ich denke, wir fahren zurück«, sagte sie. »Es war wahrscheinlich eine dumme Idee von mir, diesen … Ausflug zu inszenieren. Es hat mich nicht weitergebracht.«
Es war gegen zehn Uhr, als der Yachtclub wieder in ihre Sichtweite geriet. Noch immer schien sich niemand dort aufzuhalten. Fenster und Türen wirkten fest verschlossen, und soweit Rosanna das erkennen konnte, parkte kein Auto auf dem höher gelegenen Parkplatz. Sie hatten Glück, niemand würde etwas von ihrer Spritztour erfahren.
»Ich weiß, was ich tun werde«, sagte sie. »Ich werde mich endgültig von dieser ganzen Geschichte verabschieden. Ich kann dieses quälende Herumrätseln und Grübeln nicht länger aushalten. Ich habe mich emotional zu tief verstrickt. Ich möchte davon wieder frei werden.«
Sie saßen einander dicht gegenüber. Marc betrachtete sie forschend. »Es wird schwierig«, sagte er, »denn du bist schon sehr weit gegangen.«
»Ich weiß. Aber ich werde das schon schaffen.«
»Aber …«
»Ich werde Inspector Fielder anrufen. Ich werde ihm sagen, was ich herausgefunden habe – dass das Schiff deiner Exfrau an jenem Morgen diese mysteriöse Fahrt unternommen hat. Dass der Pass hier in Wiltonfield gefunden wurde, weiß er vielleicht bereits, jedenfalls wenn Cedric Pam so weit gebracht hat, dass sie sich der Polizei anvertraut. Den Rest muss er sich selbst zusammenreimen. Vielleicht zieht er ja ganz andere Schlüsse als ich.«
»Falls Jacqueline abstreitet, mit dem Schiff unterwegs gewesen zu sein, wird man ihr Alibi überprüfen«, sagte Marc, »und man wird die Heaven's Gate kriminaltechnisch untersuchen. Nach Spuren, die belegen könnten, dass Elaine Dawson an Bord gewesen ist.«
»Fünf Jahre danach?«
»Du ahnst nicht, was heute möglich ist. Wenn sie auf dem Schiff war, wird man das herausfinden.«
Er sah elend aus. Sie ahnte, dass es ihm schwerfiel, seine Exfrau, die die Mutter und einzige Bezugsperson seines Sohnes war, als Verdächtige in einem Mordfall an die Polizei auszuliefern. Was dann kam, würde in erster Linie furchtbar für Josh sein. Sollte sich die Schuld Jacquelines herausstellen, wäre es für ihn eine Katastrophe.
Sie streckte den Arm aus, berührte Marc in einem Anflug von Scheu jedoch nicht. »Marc, ich verstehe, wie schwer das ist. Aber ich kann nicht mit meinem Wissen hinter dem Berg halten. Damit … könnte ich nicht umgehen. Ich weiß, das alles kann bedeuten, dass Jacqueline vor Gericht gestellt wird und …«
Er schüttelte den Kopf. Er war noch grauer im Gesicht geworden.
»Jacqueline wird nicht vor einem Gericht landen«, unterbrach er sie. »Sie hat für den gesamten Zeitabschnitt, um den es geht, ein Alibi.«
Sie starrte ihn an. »Was?«
»Am 10. Januar 2003 starb Jacquelines Mutter«, sagte Marc. »An jenem Tag also, an dem ich in Heathrow mit Elaine zusammentraf. Da man im Heim merkte, dass es zu Ende ging, wurde Jacqueline bereits am 9. Januar telefonisch informiert und fuhr sofort nach Cambridge. Am 11. und 12. Januar kümmerte sie sich dort um alle organisatorischen Notwendigkeiten. Josh war so lange bei einer Freundin untergebracht. Jacqueline unterrichtete mich gleich nach ihrer Rückkehr. In der Heimleitung sowie unter dem dortigen Personal hat sie jede Menge Zeugen, die den Sachverhalt bestätigen können.«
Sie begriff immer noch nicht. »Aber … wieso …?«
»Tut mir leid, Rosanna«, sagte Marc, »aber Jacqueline scheidet als Täterin aus.«
5
Das Schiff dümpelte in Ufernähe, abseits der Fahrrinne, immer noch in Sichtweite des Clubs. Wäre dort jemand aufgetaucht, er hätte sofort gesehen, dass die Heaven's Gate nicht an ihrem Platz lag, sondern ein kleines Stück flussaufwärts im Wasser zu treiben schien. Sicher hätte das Verwunderung
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