Die Letzte Spur
schwieg einen Moment, und Rosanna dachte, dass selten ein Schweigen ungläubiger geklungen hatte. Dann fragte er in einem bemüht gleichmütigen Tonfall: »Wann kommst du denn wieder?«
»Sobald ich kann, Rob. Ich vermisse euch doch auch. Ich vermisse besonders dich.« Sie vermisste ihn wirklich, das stimmte. Das sommersprossige Gesicht. Der permanente Ausdruck von egal auf seiner Miene und in seiner Stimme, dem man so sehr anmerkte, wie aufgesetzt er war. Hinter der coolen Art war noch immer das Kind so spürbar, das er gewesen war und das er noch nicht ganz abgelegt hatte der verletzliche kleine Junge, der nie eine Mutter gehabt hatte, der ein solch großes Problem für seine viel zu jungen und überforderten Eltern dargestellt hatte, als er ungeplant und ungewollt und zum völlig falschen Zeitpunkt auf die Welt kam. Sein Vater hatte ihn schließlich übernommen, aber Rosanna wusste, dass er das keineswegs begeistert getan hatte. Das Baby Rob mochte davon viel mehr gespürt haben, als es irgendjemandem klar war. »Na ja«, sagte Rob.
Im selben Moment klingelte das Zimmertelefon.
»Bleib mal dran«, sagte Rosanna und nahm den Hörer ab. Es war die Rezeption des Hotels. »Mr. Reeve ist da, Mrs. Hamilton.«
»Ich komme gleich«, sagte Rosanna. Sie wandte sich wieder an Robert.
»Rob, hör mal, ich muss leider…«
»Wer ist Mr. Reeve?«, fragte Rob misstrauisch. Er hatte die Concierge offenbar gehört.
»Er hat etwas mit einem der Fälle zu tun, über die ich schreiben muss. Ein Zeuge sozusagen. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«
»Aha. Okay. Na dann … mach's gut. Ciao!«, sagte Robert und legte auf.
Sie schaltete ihr Handy aus, dachte ein paar Sekunden lang nach. Als sich Robert nach Reeve erkundigt hatte, hatte sie echte Angst in seiner Stimme wahrgenommen. Der Junge hatte nicht einfach nur angerufen, um sich über seinen Vater zu beschweren. Er hatte angerufen, um den Kontakt zu ihr, Rosanna, herzustellen, um sich buchstäblich zu vergewissern, dass es sie noch gab, dass sie noch zu seinem Leben gehörte. Er wusste von dem Streit zwischen seinem Vater und ihr. Er wusste wahrscheinlich noch viel mehr: dass sie so ungern in Gibraltar lebte. Dass sie sich nach ihrem alten Beruf zurücksehnte. Dass ihr Zusammensein mit Dennis von vielen Auseinandersetzungen im Alltag geprägt war – und von einer steigenden Frustration auf ihrer Seite. Ihr war immer klar gewesen, wie sehr er sie als Frau im Leben seines Vaters und als Mutter für sich selbst willkommen geheißen hatte, aber zum ersten Mal ging ihr auf, dass ihn womöglich ständig die latente Furcht beherrschte, die Familie, die er endlich bekommen hatte, könnte wieder auseinanderbrechen. Dass er unter der Englandreise seiner Stiefmutter wirklich litt, weil er sich nicht sicher war, ob sie zurückkommen würde. Schließlich war sie nicht seine leibliche Mutter. Und selbst die hatte ihn verlassen. Er war vier Wochen alt gewesen, da hatte ihn die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, hysterisch weinend dem jungen Mann in die Arme gelegt, der ihn gezeugt hatte, und geschrien: »Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann nicht!«
Nicht, dass er diesen Moment bewusst mitbekommen hatte. Und doch war er ein entscheidender Teil seiner Biografie und seines Wesens, in seinen Träumen und Ängsten fest verwurzelt.
Ach, Rob, dachte Rosanna, wenn du mir doch glauben könntest … Natürlich komme ich zu dir zurück. Natürlich!
Am liebsten hätte sie ihn sofort noch einmal angerufen und ihm gesagt, dass sie ihn lieb hatte und dass er zu ihrem Leben gehörte, aber es erschien ihr nicht der richtige Zeitpunkt. Der Satz, einfach nur so gesagt, hätte ihn peinlich berührt. Im Grunde brauchten sie ein längeres Gespräch über das Thema, aber das war nicht geeignet für das Telefon. Und unten in der Lobby wartete Marc Reeve.
Von Cedric hatte sie nichts mehr gehört, aber sie hatte ihm einen Zettel unter seiner Tür hindurchgeschoben. Bin essen mit Marc Reeve!
Sie nahm ihren Mantel und verließ ihr Zimmer.
Sie kannte Reeve von Zeitungsfotos und hatte gewusst, dass er ein gut aussehender Mann war. Mehr war nicht erkennbar gewesen. Sein Gesicht hatte verschlossen auf sie gewirkt, sein Ausdruck hatte nichts preisgegeben. Es war nicht erkennbar gewesen, ob er ein fröhlicher oder ein ernster Mensch war, freundlich oder hart, entgegenkommend oder abweisend, herzlich oder kalt. Die Telefongespräche mit ihm hatten ihr verraten, dass sie seine Stimme als angenehm empfand
Weitere Kostenlose Bücher