Die Letzte Spur
gut. Ich gehe dann jetzt!«, rief er.
Ja! Beeil dich! Verschwinde und komm nicht so bald wieder!
Zwei Minuten später hörte sie unten die Haustür. Nach einer Weile wagte sie es, aus dem Fenster zu spähen. Sie sah ihn die Gasse hinunterschleichen, in jener unbeholfenen Gangart, die Menschen zu eigen ist, die zu viel sitzen. Leben Sie wohl, Mr. Cadwick. Vielleicht finden Sie ja irgendwann ein neues Opfer, das Sie tyrannisieren können!
Schnell zog sie ihre Stiefel und ihren Mantel an, ergriff Koffer und Plastiktüte und warf noch einen allerletzten Blick zurück in die Räume, die fast zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen waren. Sie hatte sich hier nie besonders wohl gefühlt, dennoch waren ihr die abgewohnten, hässlichen Gegenstände inzwischen sehr vertraut, und irgendwie war es schon ein Stück Heimat gewesen. Sie schob den Anflug von Wehmut rasch zur Seite. Bei ihrer Art zu leben konnte sie es sich nicht leisten, an einem Ort echte Wurzeln zu schlagen. Sie musste jederzeit zu Abschied und Aufbruch bereit sein.
Der Weg zur Bushaltestelle war nicht allzu weit, aber der Koffer war schwer. Immer wieder musste sie ihn absetzen und eine Pause einlegen. Zudem musste sie einen Umweg gehen, da sonst die Gefahr bestanden hätte, Mr. Cadwick zu begegnen, der vom Einkaufen zurückkam. Unterwegs dachte sie noch einmal über den Zeitungsartikel nach, der sie am Vortag so erschüttert hatte. Linda Biggs hieß das bedauernswerte junge Mädchen, das in London auf so grausame Weise umgebracht worden war. Natürlich musste Pit überhaupt nichts damit zu tun haben. Die Umstände, wie sie in der Zeitung geschildert wurden, erinnerten an Jane French, auch der Ort, an dem man ihre Leiche gefunden hatte. Andererseits hatte sie schon oft von sogenannten Nachahmungstätern gelesen. Die schnappten irgendeine Geschichte auf und machten sich einen Spaß daraus, den gesamten Ablauf in einem neuen Fall zu kopieren. Es konnte sich um einen durchgeknallten Typen handeln, der den Fall French im Internet aufgestöbert hatte und davon fasziniert gewesen war. Er hatte sich hineingesteigert, hatte an nichts anderes mehr gedacht, hatte all die grauenvollen Dinge, die mit ihr geschehen waren, in Gedanken wieder und wieder durchgespielt. Und nun, Jahre nach dem Verbrechen, waren seine Sicherungen durchgebrannt. Der Zufall hatte ihm das junge Mädchen in die Hände gespielt, die Umstände waren günstig gewesen, er hatte es getan.
So etwas gab es. Man hörte es immer wieder. Die Amokläufer, die inzwischen geradezu regelmäßig mit Vorliebe in Schulen oder Colleges eindrangen und alles abknallten, was ihren Weg kreuzte, hatten meist diesen Weg genommen. Waren ähnlich blutigen Szenarien wie denen, die sie später selbst anrichteten, in Filmen, Videospielen oder auch in Presseberichten begegnet und hatten nicht mehr davon lassen können. Warum sollte Linda Biggs nicht auch das Opfer eines solchen Verrückten geworden sein?
Auch deshalb, weil es mir lieber wäre, dachte sie, weil mir kalt wird bei dem Gedanken, dass Pit noch immer so drauf ist. Weil ich hoffe, dass sich irgendetwas bei ihm geändert hat.
Aber war das realistisch? Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie einer Utopie anhing. Pit war in den Fall Biggs vielleicht nicht verwickelt, aber deswegen hatte er sich noch lange nicht geändert. Sie hatte ihn als Psychopathen erkannt, sie war bis heute überzeugt, dass diese Einschätzung stimmte. Psychopathen blieben Psychopathen, sie legten diese tiefe Störung nicht plötzlich eines schönen Tages ab und waren dann nicht wiederzuerkennen.
Sie erreichte die Haltestelle rechtzeitig und saß zehn Minuten später im Bus. Das Wetter wurde besser, wie sie beim Hinausschauen feststellte. Zum ersten Mal seit Tagen zeigten sich große Wolkenlücken und dahinter blauer Himmel, und immer wieder fielen Sonnenstrahlen zur Erde und tauchten die winterkahle Landschaft in ein freundliches Licht. Noch immer war es kalt, und sie wusste auch, dass sich der Frühling hier oben mehr Zeit ließ als im Süden Englands, aber es war doch, als schicke er heute einen Vorboten, der sein baldiges Kommen ankündigte, und dies erschien ihr als ein gutes Zeichen.
Mit dem Bus bewältigte sie die Strecke innerhalb einer Viertelstunde. Mit dem schweren Koffer war es noch ein recht anstrengender Weg bis zum Haus von Mrs. Smith-Hyde, und trotz der sehr frischen Luft und des frostigen Windes war sie ziemlich verschwitzt, als sie keuchend dort anlangte. Wie schon bei
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